Venezuela gilt derzeit als „linkes“ Vorzeigeprojekt. Der Kampf gegen Armut, Sozialprogramme und die Ausrufung des „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ machten Präsident Hugo Chávez zum Held der Linken. Doch wie steht’s mit den Geschlechterverhältnissen im angeblich „demokratischsten Land der Welt“?
Hugo Chávez – für seinen Verbalradikalismus bekannt – betont zwar immer wieder die Bedeutung von Frauen im "bolivarianischen Prozess", doch die konkreten Maßnahmen zur Verbesserung ihrer Situation lassen weiterhin auf sich warten. Reduziert auf ihre Rollen als Hausfrauen, Mütter, Sexobjekte und meist im informellen Sektor beschäftigt, hben die venezolanischen Frau-en wohl Besseres zu tun, als auf ihre Befreiung durch den Comandante zu warten.
Ende Mai 2006 gingen in Caracas Tausende von Frauen auf die Straße, um gegen die Teilaufhebung eines Gesetzes [ 1 ] zu demonstrieren, welches Frauen und Kinder vor Gewalt in der Familie schützen sollte. Den Antrag auf Aufhebung reichte Oberstaatsanwalt Isías Rodríguez ein, dieser gehört nicht, wie vielleicht vermutet, der reaktionären Opposition an, sonder gilt als treuer Chavist. Angesichts der Berichte von Frauenorganisationen und NGOs besteht jedoch dringend Handlungsbedarf. Nach Angaben des Nationalen Fraueninstitutes (INAMUJER) ist jede dritte Frau in Venezuela einmal in ihrem Leben von Gewalt betroffen, die Täter kommen meist aus der eigenen Familie. Trotz zahlreicher Proteste sind einzelne Paragraphen des Gesetzes gegen häusliche Gewalt bis dato außer Kraft. Der Druck von Frauenorganisationen führte jedoch dazu, dass im November 2006 das "Grundgesetz über die Rechte der Frau auf ein Leben ohne Gewalt" in der Nationalversammlung eingebracht wurde.
Ohne Rechte
Auch die Rollenverteilung ist klar geregelt und hat es sogar bis in die venezolanische Verfassung geschafft. "Der Staat erkennt die Hausarbeit als eine Wirtschaftstätigkeit an, die Mehrwert erzeugt und Werte sowie sozialen Wohlstand schafft. Hausfrauen haben entsprechend der gesetzlichen Regelungen das Recht auf soziale Absicherung".[ 2 ] Dieser Artikel wird oftmals als revolutionär und seinesgleichen suchend bezeichnet. Und so wichtig das sichtbar machen von unbezahlter Reproduktionsarbeit von Frauen auch ist, fehlt dabei jeglicher emanzipatorischer Ansatz, weil Reproduktionsarbeit damit auf der individuellen Ebene einzementiert wird. Die Vergesellschaftung dieser unbezahlten Arbeit wird in keinster Form angedacht und so wundert es auch nicht, dass etwa öffentliche Kinderbetreuungseinrichtungen in Venezuela nur vereinzelt zu finden sind. Hinzu kommt, dass die wenigsten Frauen in Venezuela "nur" Hausfrauen sind. Wie überall auf der Welt arbeiten sie in den schlecht bezahlten Branchen und in den meisten Fällen im informellen Sektor als Straßenverkäuferinnen und Reinigungskräfte.
Arbeitsrechtliche und soziale Absicherungen gibt es für diese Arbeiterinnen nicht. Nach Angaben von INAMUJER leben siebzig Prozent der Venezolanerinnen in Armut. Die Anerkennung von Hausarbeit wird diesen Zustand nicht ändern, sehr wohl jedoch die Schaffung von Arbeitsplätzen mit sozialer Absicherung und guter Bezahlung und eine radikale Umverteilung. Immerhin erwirtschaftet die venezolanische ArbeiterInnenklasse jährlich Erdöleinnahmen in der Höhe von 20-30 Milliarden Dollar.
Billigarbeitskräfte
Die Individualisierung von Reproduktionsarbeit geht jedoch noch weiter. Im Rahmen der zahlreichen Sozialprogramme wurde 2006 die Misión "Madres del Barrio" (Mütter der Armen-viertel) gestartet. Ziel dabei ist die Situation von Hausfrauen in den Armenvierteln zu verbessern. Eigenartig ist zuerst einmal, dass die Kriterien für die Teilnahme an der Misiòn so gelegt sind, dass lediglich 150.000 Frauen die Unterstützung erhalten. Bei einer Zahl von 2.855.557 Hausfrauen in den Barriós sind dies 5%.[ 3 ] Doch wer die monatliche Unterstützung von 373.000 Bolívares (133,53 Euro) erhalten will, muss dafür auch einiges leisten. Neben der obligaten Bereitschaft zur Teilnahme an Bildungsprogrammen müssen die Frauen für die Gesundheit und den Zusammenhalt in den Barrios sorgen, sich um die Kinder und alten Menschen kümmern, sind für das Funktionieren der Schulküchen und Jugendzentren verantwortlich.[ 4 ] … Durchaus "weibliche" Tätigkeiten also und was ist schon umsonst im Leben? Bei einem Mindestlohn von 186 Euro tut sich der Verdacht auf, ob es hier nicht eher um die Beschaffung von Billigstarbeitskräften geht, welche das Versagen der staatlichen Institutionen kaschieren sollen.
Nur Huren kaufen Kondome
Aus der Rolle der Hausfrau und Mutter zu entfliehen, ist den meisten Frauen nicht möglich. Verhütung und gezielte Familienplanung sind vielerorts noch immer ein absolutes Tabuthema, die Pille für die meisten zu teuer, Kondome eine absolute Seltenheit, in ländlichen Gegenden gelten Frauen, die Kondome kaufen, als Huren. Abtreibung ist in Venezuela nach wie vor verboten. Nach einer Schätzung von INAMUJER sterben in Venezuela pro Woche vier Frauen an "illegalen" Abtreibungen. Bestrebungen der Frauenbewegung für eine Legalisierung sind nicht zuletzt am Widerstand der pro-chavistischen Parteien gescheitert. Zu Gewalt, geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung und Armut kommt ein offener Sexismus hinzu, der nicht nur im öffentlichen Raum erkennbar wird, sondern auch bis tief in die Linke reicht.
Auf die Barrikaden
Was der Linken vor allem fehlt, ist ein Abrücken vom Bild der Frau als Mutter und Sexobjekt. Und so scheint es auf den ersten Blick, dass Arbeitskämpfe in Venezuela ausschließlich von Männern getragen werden. Die Kämpfe der Frauen bleiben meist im Hintergrund und das, obwohl sie in ihrer Radikalität den Arbeitern durch nichts hinterher stehen. Wie etwa die Arbeiterinnen von Gotcha, einer Textilfabrik in der Nähe von Maracay. 67 Frauen sind dort als Näherinnen beschäftigt. Als die Unternehmensführung die Gründung einer Gewerkschaft verhindern wollte, sammelten sie heimlich Unterschriften und setzten die Betriebsgewerkschaft durch. 2005 wollte das Unternehmen die Arbeiterinnen in eine Kooperative drängen. Dies hätte Akkordarbeit und den Verlust jeglicher sozial- und arbeitsrechtlicher Absicherung bedeutet. Als sie sich weigerten begann die Unternehmensführung damit, die Nähmaschinen abzutransportieren. Daraufhin besetzten die Frauen für 3 Monate das Gebäude und streikten für ihre Rechte. Mit Erfolg! Die Fabrik wurde nicht geschlossen, die Arbeiterinnen sind nun zum Mindestlohn angestellt und sie erhielten den Lohn für die Zeit des Streikes fast vollständig ausbezahlt. Gotcha ist jedoch keine Ausnahme. Frauen spielen eine we-sentliche Rolle im Kampf der venezolanischen ArbeiterInnenklasse.
Denn auch in Venezuela kämpfen Frauen unter den widrigsten Bedingungen für ihre Rechte. Abseits der Hip-Hip-Hurra-Chávez-Frauenbewegung kämpfen sie jeden Tag gegen Sexismus, Rollenklischees, Einkommensunterschiede, Gewalt – und ums eigene Überleben. So gibt es viele Initiativen und autonome Frauenprojekte, die kritisch auf die Mängel und Fehlentwicklungen des "bolivarianischen Prozesses" hinweisen und für tatsächliche gesellschaftliche Veränderungen eintreten. Veränderungen, die die Grundfesten der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft ins Wanken bringen, denn letztendlich wird die Gleichheit zwischen Mann und Frau im Kapitalismus nicht möglich sein. Hugo Chávez wird weder die ArbeiterInnenklasse noch die Frauen befreien, denn dies kann letztendlich nur ihr eigenes Werk sein.
Die Frage, die sich aufdrängt ist, warum viele Linke, immer dann, wenn es um Venezuela geht, mit anderen Maßstäben zu messen beginnen? Sind es der Verbalradikalismus von Hugo Chávez, das Karibikflair oder einfach nur stumpfer Exotismus, die dazu führen, dass wir all jene Kriterien, mit denen wir ansonsten gesellschaftliche Verhältnisse analysieren, über Bord werfen? Oder sind wir wieder einmal dabei, alles dem Fortschritt der Revolution unter zu ordnen? Viel notwendiger als Lobeshymnen auf Hugo Chávez ist jedoch Kritik, denn gerade wenn es um die Rechte von Frauen geht, dürfen wir als Linke kein Auge zudrücken n
Fußnoten:
[ 1 ] Ley de Violencia Contra la Mujer y la Familia.
[ 2 ] Verfassung der Bolivarianischen Republik Venezuela, Artikel 88
[ 3 ] Nationales Statistikinstitut (INE): zitiert nach; www.jir.org.ve
[ 4 ] Decreto Presidencial No. 4342, Artikel 1-3; zitiert nach: www.jir.org.ve