Von Mao zu Maoam: Die Restauration des Kapitalismus in China

90% aller Handys, 50% aller Kameras, und 40% aller Schuhe weltweit werden in China produziert. China ist außerdem führender IT-Exporteur sowie Nr.1 in der Eisen-, Stahl- und Aluminium-Produktion. Vor kurzem hat das "Reich der Mitte" Deutschland vom 3. Platz bei der Automobilproduktion verdrängt. Die "Volksrepublik" China ist momentan die fünftstärkste Volkswirtschaft der Welt. Unglaubliche Wachstumsraten von durchschnittlich 9% in den letzten 20 Jahren schufen den Begriff des "chinesischen Wirtschaftswunders". Auf der anderen Seite der Medaille steht fürchterliches soziales Elend und eine zunehmende Polarisierung zwischen Arm und Reich. Ein Blick hinter die Kulissen der Werkbank der Welt …

Alles begann mit im Jahr 1978, zwei Jahre nach dem Tod von Mao Zedong. Die bürokratische Kommandowirtschaft Chinas war an ihre Grenzen gestoßen und außerdem durch abenteuerliche Kampagnen wie die "Kulturrevolution" ordentlich ins Schleudern geraten. Um einen Weg aus der Krise zu finden, entschieden sich die stalinistischen BürokratInnen für die Einführung marktwirtschaftlicher Reformen, zuerst in der Landwirtschaft, später in der Industrie. Die Etablierung einer Kontrolle der ArbeiterInnen über die Produktion, d.h. derjenigen, die tatsächlich an guten Ergebnissen der Wirtschaft interessiert gewesen wären, kam den StalinistInnen freilich nicht in den Sinn. Dies hätte schließlich die Privilegien dieser abgehobenen Bürokratie in Frage gestellt.

Bauern/Bäuerinnen durften von nun an Überschüsse auf dem freien Markt verkaufen und erhielten de facto das Nutzungsrecht für ihre Anbauflächen. ManagerInnen konnte Staatsbetriebe "pachten" und – neben der Abgabe einer gewissen Quote – über die Profite frei verfügen. Außerdem öffnete das Regime die südlichen und östlichen Küstenregionen nach und nach für Investitionen aus dem kapitalistischen Ausland. Es kam zu einer Gründungswelle so genannter "Kollektivunternehmen", der Form nach kommunale Genossenschaften (die jedoch nicht dem zentralen Plan unterstellt waren), dem Inhalt nach oft versteckte Privatunternehmen stalinistischer ManagerInnen. Außerdem gab die Regierung die Preise für Konsumgüter schrittweise frei und höhlte damit das Planungssystem immer mehr aus. 1994 waren bereits 90% aller Einzelhandelspreise freigegeben, also den Schwankungen des freien Marktes unterworfen.[ 1 ]

Der Zerfall des stalinistischen "Ostblocks" schwächte Chinas Position im Weltsystem und beunruhigte die stalinistische Bürokratie in Beijing. Beängstigt sah sie den kompletten Machtverlust der KP-Regime sowie die chaotische Wiedereinführung des Kapitalismus in Russland und Osteuropa und entschied sich dafür, das Tor in Richtung Marktwirtschaft schrittweise zu öffnen, um dadurch den Schlüssel in der Hand behalten zu können.

Der 14. Parteitag der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) im Oktober 1992 brachte schließlich den Durchbruch in Richtung kapitalistischer Restauration. Dort wurden zahlreiche weitreichende Reformen beschlossen und die Bezeichnung von Chinas Ökonomie als "sozialistische Marktwirtschaft" offiziell abgesegnet. Nach diesem Parteitag, der mit einer Schwächung des traditionalistischen Parteiflügels verbunden war, sowie der Ausschaltung der kämpferischen ArbeiterInnen- und StudentInnenbewegung nach dem Massaker am Beijinger "Platz des Himmlischen Friedens" (Tian'anmen-Platz) mit tausenden Toten im Jahr 1989 war eine Situation gegeben, die Bürgerliche normalerweise als "gutes Investitionsklima" beschreiben. Bis dato hatte die Regierung 13 Freihandelszonen und 260 Sonderentwicklungszonen mit Genehmigungs-, Zoll- und Steuerfreiheit, aber vor allem bestialischen Ausbeutungsbedingungen (ArbeiterInnen schufteten oft 90 – 100 Wochenstunden!) für ausländische Exportunternehmen geschaffen.

Unter diesen Bedingungen kam es nach 1992 zu einem kometenhaften Anstieg der ausländischen Direktinvestitionen (ADI) in China. Die realisierten ADI stiegen von 11,01 Mrd. Dollar im Jahr 1992 auf 33,77 Mrd. Dollar im Jahr 1994 und seit dem kontinuierlich an.[ 2 ] 2003 war China laut OECD-Berechnungen erstmals das größte Empfängerland von ADI. Nach und nach entwickelten sich die chinesischen Küstenregionen zur verlängerten Werkbank für Unternehmen aus Hongkong, Taiwan und anderen kapitalistischen Staaten der "chinesischen Diaspora" (chinesische KapitalistInnen, die nach der Revolution von 1949 ins Ausland flohen), die ihre arbeitsintensiven Produktionsbereiche, v.a. in der Textil- und der Nahrungsmittelindustrie, später auch in der Elektronikbranche nach China auslagerten. Nach einiger Zeit wurden auch die USA und Japan zu bedeutenden Investoren. Mit der Strategie, den eigenen Binnenmarkt relativ abzuschirmen und gleichzeitig die Exportwirtschaft für ADI zu öffnen, schuf die KPCh die Basis für das "chinesische Wirtschaftswunder".

Am 1. Juli 1997 erfolgte die Rückgabe der ehemals britischen Kronkolonie Hongkong an die Volksrepublik China. Die Eingliederung dieses kapitalistischen Kleinstaates brachte natürlich keine grundlegende Veränderung der ökonomischen Verhältnisse in China, wohl aber einen weiteren, wichtigen Schritt im Marsch zur endgültigen Restauration des Kapitalismus. Denn mit der historisch gewachsenen, wirtschaftlich starken und entsprechend selbstbewussten KapitalistInnenklasse Hongkongs trat ein neuer Akteur auf Chinas politische Bühne.

Privatisierungen

Ein weiterer Eckpfeiler des kapitalistischen Restaurationsprozesses waren die Reformen in den Staatsunternehmen. Defizitäre Staatsbetriebe konnten nach dem 14. Parteitag für bankrott erklärt werden, verpachtet oder mit anderen Betrieben fusioniert, leicht profitable (kleinere) Staatsunternehmen sollten sogar verkauft werden.

Auf ihrem 15. Parteitag im Jahr 1997 gewann die KPCh "neue ideologische Erkenntnisse" und kam zum Schluss, dass es "vielfältige Formen des Eigentums im Sozialismus" geben könne. Von nun an schritt die Privatisierung kleiner und mittelgroßer Staatsunternehmen zügig voran – oft auch gegen den Willen der Zentralregierung. (Interessenskonflikte zwischen der Führung in Beijing und den teilweise sehr mächtigen Provinzregierungen sind in China nichts ungewöhnliches und haben lange Tradition). Dieser Prozess kann nur als "Massenprivatisierung" bezeichnet werden. Gab es 1996 noch 127.600 staatliche Industriebetriebe, so waren es 2003 nur mehr 34.280. Im Gegensatz dazu gab es zu diesem Zeitpunkt bereits 67.000 private Industrieunternehmen in China.[ 3 ] Die Umstrukturierung der staatlichen Wirtschaft ging einher mit Massenentlassungen: Zwischen 1998 und 2003 verloren schätzungsweise 40 bis 60 Mio. StaatsarbeiterInnen ihre Anstellung.[ 4 ]

Nicht selten wurden die freigegebenen Staatsbetriebe, bzw. große Anteile an deren Aktienkapital, direkt vom eigenen Management aufgekauft. Häufig ruinierten die ManagerInnen ihr Unternehmen, indem sie Vermögen auf Konten eines Vertrauten verschoben und anschließend den Bankrott organisierten. Schließlich kauften sie den, durch den Staat von Schuldenlasten befreiten, Betrieb wieder auf. Eine wissenschaftliche Studie über chinesische UnternehmerInnen aus den Jahren 1996 – 1998 zeigt, dass über 40% aller chinesischen KapitaleignerInnen unmittelbar vor der Unternehmensgründung ManagerInnen in Staats- oder "Kollektivunternehmen" waren.[ 5 ]

WTO-Beitritt

Im November 2001 trat China nach 15-jährigen Beitrittsverhandlungen der WTO bei. Im Laufe der 90er Jahre machte die chinesische Regierung gegenüber den in der WTO dominierenden Ländern (v.a. den USA) zahlreiche Zugeständnisse, senkte kontinuierlich seine Importzölle und verpflichtete sich (zumindestens auf dem Papier), US-amerikanische Videos, CDs und PC-Software vor Kopien zu schützen.

Spätestens ab dem Beitritt Chinas zur WTO kann von geplanter Wirtschaft keine Rede mehr sein. Das Land musste nun sämtliche Handelsbarrieren abbauen, verschiedene Zölle senken oder ganz abschaffen, Importverbote auf diverse landwirtschaftliche Produkte aufheben, ausländische Banken und Versicherungen zulassen und das Staatsmonopol in den Dienstleistungsbranchen aufgeben, um nur einige Implikationen zu nennen. Außerdem mussten nun allen Unternehmen uneingeschränkte Handelsrechte zugestanden werden und ausländischen Firmen erlaubt werden, sämtliche Produkte in China zu vertreiben.

Was ist Kapitalismus?

Linke wie Rechte weisen des Öfteren darauf hin, dass in China keineswegs noch die "freie Marktwirtschaft" regiert. Allerdings ist es ein Fehler, Kapitalismus mit völlig liberalisierter Marktwirtschaft gleichzusetzen. Kapitalismus kann in verschiedensten Ausformungen existieren, mit mehr oder weniger staatlichem Einfluss, wobei der Mythos eines Kapitalismus ohne jegliche staatliche Regulation historisch betrachtet nie existiert hat. In den 50er Jahren war die gesamte österreichische Schlüsselindustrie verstaatlicht und niemand zweifelte daran, dass Österreich auch damals kapitalistisch war.

Schließlich definieren sich Kapitalismus und Sozialismus nicht darüber, wie viel Unternehmen im privatwirtschaftlichen und wie viel im staatlichen Bereich angesiedelt sind. (Einmal davon abgesehen, dass Unternehmen im Staatsbesitz ja noch lange nicht gleichbedeutend sind mit Unternehmen unter ArbeiterInnenkontrolle. Entscheidend ist neben dem Eigentumstitel eben auch die tatsächliche Verfügungsgewalt). Ausschlaggebend ist, ob die Wirtschaft nach kapitalistischen Kriterien funktioniert – ob sie vom Wertgesetz gesteuert wird: Die Frage ist, ob die Unternehmen miteinander konkurrieren, ob sie dorthin investieren, wo die Profitrate am höchsten ist und ob die menschliche Arbeitskraft eine Ware ist, d.h. ob es einen Arbeitsmarkt gibt.

Natürlich finden sich in China noch zahlreiche und nicht unwesentliche Elemente des alten ökonomischen Systems: Ein stark regulierter Finanzmarkt, bzw. Aktienmarkt (welcher jedoch immer mehr gelockert wird) oder vier große Staatsbanken die noch immer ziemlich viele politische Kredite vergeben. Das bedeutet, dass die Entscheidungen darüber, ob Unternehmen Kredite bekommen, nicht aufgrund wirtschaftlicher Kriterien (Aussicht auf Rentabilität, also Profite), sondern aufgrund der politisch-strategischen Wichtigkeit, die das Regime diesen Unternehmungen einräumt, gefällt wird. Nach Auslaufen der WTO-Übergangsfristen muss China ab 2007 seinen Kreditmarkt für ausländische Unternehmen öffnen. Die eigene Währung, den Yuan, hält die Regierung um etwa 20-30% unterbewertet, was in der Vergangenheit sehr hilfreich für die exportorientierte chinesische Wirtschaft war (weil dadurch chinesische Produkte im Ausland viel günstiger angeboten werden können als jene der Konkurrenz).

Außerdem existiert noch immer eine ziemlich große staatliche Industrie, v.a. in der Rüstungsproduktion, im Energiebereich, im öffentlichen Verkehr oder in ökonomischen Schlüsselbereichen wie im Maschinenbau oder in der Petrochemie. Allerdings dürfen privaten Firmen seit Anfang 2005 auch in den einstigen staatlichen Monopolbranchen mitmischen. Aber selbst die alten Staatsunternehmen funktionieren immer mehr nach Marktkriterien. Die Preise für Konsumtions- und Produktionsmittel bilden sich im heutigen China zu über 90% durch Angebot und Nachfrage.[ 6 ] 2003 produzierte der Staatsektor 34%, die Kollektivunternehmen 22% und der "wirklich private Sektor" 44% des BIP.[ 7 ] (Dabei darf jedoch nicht vergessen werden, dass der staatlichen Anteil tendenziell von wenigen großen, der private eher von vielen kleineren Unternehmen erwirtschaft wird).

Der staatlichen Nachrichtenagentur Xinhua zufolge "wird sich die Privatwirtschaft während des 11. Fünfjahresplans weiter mit atemlosem Tempo entwickeln." So sind "die Privatunternehmen in China mittlerweile Hauptkanäle für Produktionskapital, Arbeitsbeschaffung, Steuereinnahmen und Außenhandel. Über 75 Prozent der Arbeitstätigen in den Städten und Gemeinden arbeiten im privaten Sektor."[ 8 ] Insgesamt lässt sich feststellen, dass die kapitalistische Restauration in China zwar noch nicht vollständig abgeschlossen ist, die kapitalistischen Elemente in der Ökonomie aber eindeutig überwiegen.

Soziale Lage

Die Wiedereinführung des Kapitalismus und das chinesische Wirtschafswunder haben zwar die Gesellschaft insgesamt reicher gemacht, und somit die absolute Armut gesenkt (1990 waren laut UNO 32% "absolut arm", 2002 nur mehr 16,1%), allerdings können wir in China eine zunehmende Polarisierung zwischen Arm und Reich beobachten. Im ersten Quartal 2005 verfügten die reichsten 10% über 45% des nationalen Reichtums, die ärmsten 10 % nur über 1,4 %.[ 9 ]

Diese Polarisierung findet zwischen den reichen Küstenprovinzen im Süden und Osten des Landes, innerhalb jeder dieser Provinzen zwischen Stadt und Land sowie in den Städten zwischen KapitalistInnen und ArbeiterInnen statt. So ist das Durchschnittseinkommen der StadtbewohnerInnen 3,25 mal so hoch wie das am Land, jenes in den reichsten Provinzen doppelt so hoch wie das in den ärmsten. Zwar können sich die ChinesInnen heute vielleicht mehr Fernseher und Videorecorder kaufen als früher, bei der Grundversorgung bestehen jedoch beträchtliche Probleme. Sogar Vizegesundheitsminister Gao Qing muss zugeben: "48,9% der Bevölkerung können sich im Krankheitsfall keinen Arztbesuch leisten, und 29,6% werden ärztlich nicht behandelt, wenn es notwendig wäre".[ 10 ]

Die größte Armut herrscht im ländlichen Raum vor. Zwar erwirtschaftet die Landwirtschaft nicht einmal mehr 15% des BIP, allerdings arbeiten in diesem Sektor noch fast 50% der Erwerbsbevölkerung. Seit 2004 fährt die Regierung eine neue Linie in der Agrarpolitik. Investitionen wurden massiv erhöht sowie die Landwirtschaftssteuer abgeschafft. Doch die KP-Führung steckt in der Zwickmühle. Entwickelt sie die extrem rückständige Landwirtschaft zu schnell, würde das zu enormen Produktivitätssteigerungen führen. Diese wiederum würden Millionen von Bauern/Bäuerinnen überflüssig machen und zu einem eklatanten Anstieg der Arbeitslosigkeit führen. Schon jetzt wird die Arbeitslosigkeit in den Städten auf bis zu 15% geschätzt (was angesichts des hohen Wirtschaftswachstums enorm ist!). Und täglich strömen unzählige Menschen vom Land in die Stadt um Arbeit zu suchen. China erlebt, ähnlich wie Britannien oder Deutschland im 19. Jahrhundert, einen gigantischen Proletarisierungsprozess – bloß in Zeitraffer.

Die ca. 100-200 Mio. "WanderarbeiterInnen", ehemalige oder "Noch"-Bauern/Bäuerinnen (darunter viele SaisonarbeiterInnen), die in die Städte ziehen um dort, aus der Not heraus, schlecht bezahlte Jobs anzunehmen, bilden die unterste Schicht der riesigen chinesischen ArbeiterInnenklasse. Sie werden ausgepresst wie Zitronen, haben zumeist weder soziale Absicherung noch gewerkschaftliche Vertretung und sind oft gefährlichen Arbeitsbedingungen ausgesetzt. Allein Beijing, wo ca. 1,3 Mio. WanderarbeiterInnen am Bau arbeiten, verzeichnet jährlich 2000 durch Arbeitsunfälle getötete BauarbeiterInnen.[ 11 ] Diese Verhältnisse, die an Friedrich Engels' Schilderung von der "Lage der arbeitenden Klasse in England" aus dem Jahr 1845 erinnern, zeigen, was die KapitalistInnen aufführen, wenn sie sich von keiner organisierten ArbeiterInnenbewegung bedroht sehen. Schließlich sorgt die eiserne Faust der KPCh für "Ruhe und Ordnung" im Land und schafft gute Ausbeutungsbedingungen für in- und ausländische Konzerne.

Wütende Proteste

2004 wurden offiziell 74.000, 2005 sogar 87.000 Protestaktionen (Demos, Streiks, Unruhen) registriert. Diese teilen sich grob gesagt in drei verschiedenen Kategorien auf: 1.: Kundgebungen, Blockaden oder Sitzstreiks von entlassenen oder pensionierten StaatsarbeiterInnen gegen Entlassungen, oder nicht ausgezahlte Pensionen. 2.: Teilweise sehr militante Arbeitskämpfe von Beschäftigten in der Privatwirtschaft für elementare Arbeitsrechte oder das Recht auf gewerkschaftliche Organisierung. 3.: Ebenfalls oft sehr militante Bauern/BäuerInnen-Proteste gegen die Requirierung von Ackerland für diverse Projekte (von Firmengründungen bis hin zu Golfplätzen für Neureiche). Von 1997-2004 gingen so 6,6 Mio. Hektar Anbaufläche verloren, wovon 40 Mio. Bauern/Bäuerinnen mitsamt ihren Familien betroffen waren.[ 12 ] Häufig liefern sich hunderte, oder sogar tausende Protestierende wilde Schlachten mit der Polizei; die "RädelsführerInnen" werden oft jahrelang eingesperrt.

Steht nun in China die soziale Revolution vor der Tür? Nicht unbedingt. Abgesehen davon, dass die KPCh weiterhin fest im Sattel sitzt, gibt es in China ein weit verbreitetes Aufstiegsgefühl, vielleicht zu vergleichen mit jener Stimmung im Österreich der 60er Jahre. "Wir arbeiten hart, aber den Kinder wird es einmal besser gehen" denken sich viele ChinesInnen. (Doch dies kann sich im Fall einer Wirtschaftskrise rasch ändern!) Last but not least setzt die Regierung bewusst auf Nationalismus als ideologischen Ersatz für die einstigen Verheißungen vom "sozialistischen Paradies". Ein Beispiel: Den wütenden Protesten gegen das skandalöse japanischen Schulbuch im Jahr 2005, in welchem die Verbrechen des japanischen Imperialismus gegen das chinesische Volk extrem verklärt dargestellt wurden, stand die Regierung durchaus wohlwollend gegenüber (denn auf diese Weise kann sich aufgestauter Frust über die sozialen Verhältnisse in für die KPCh harmlose Kanäle entladen).

Dennoch werden auch für die exportorientierte chinesische Volkswirtschaft die Spielräume enger und wieder steckt die KP in der Zwickmühle. Laut dem Beratungsunternehmen Mc Kinsey gibt es z.B. Überkapazitäten von rund 30-40% bei der Produktion von Waschmaschinen, Kühlschränken und Mikrowellengeräten, bei Fernsehern sind es sogar fast 90%.[ 13 ] Um eine Überproduktionskrise zu vermeiden, muss die Regierung das Wachstum drosseln. Dies aber birgt die Gefahr einer Explosion der Arbeitslosenrate und dadurch ein Ansteigen der sozialen Proteste in sich.

Ein weiteres Problem ergibt sich aus der Schwierigkeit, die rasch wachsende Wirtschaft mit ausreichend Rohstoffen, v.a. Erdöl, zu versorgen. Das führt dazu, dass sich China in vielen Belangen nicht anders als die "westlichen" imperialistischen Mächte verhält. Beispielsweise hat das Land 4000 SoldatInnen im Sudan zur Bewachung einer Pipeline stationiert.[ 14 ] Seine Rohstoffe holt sich China hauptsächlich aus Afrika und Südamerika, wohin es Industriewaren exportiert. Aber auch im "mittleren Osten" will China mitmischen. So schloss das Land vor kurzem einen Vertrag mit dem Iran über den Bau einer Pipeline von Persien über Kasachstan bis nach China ab.

Der Kapitalexport chinesischer Unternehmen ist bislang freilich noch recht unterentwickelt. Die festlandchinesischen Direktinvestitionen im Ausland beliefen sich 2004 auf gerade einmal 1,8 Mrd. Dollar. Zum Vergleich: Das winzige imperialistische Österreich investierte im selben Jahr 7,2 Mrd. Dollar direkt im Ausland. [ 15 ] Einen "chinesischen Imperialismus" können wir hier noch nicht erkennen, wohl aber eine starke Regionalmacht, die eine zunehmend wichtigere Rolle im weltweiten Machtgefüge einnimmt. Durch den Heißhunger Chinas auf Rohstoffe aller Art kommt es zu einer Veränderung des weltweiten Preissystems. Zahlreiche US-amerikanische und europäische Konzerne, v.a. aus sehr rohstoffabhängigen Branchen wie etwa der Autoindustrie, werden darauf mit Entlassungen und anderen Angriffen auf ihre Beschäftigten reagieren. Nicht nur aus diesem Grund bleibt eine Beschäftigung mit China weiterhin spannend …

Die KPCh und das Kapital

Die allmähliche Veränderung in den Produktionsverhältnissen von einer stalinistischen Kommandowirtschaft hin zu einer kapitalistischen Marktwirtschaft hinterließ auch in der "Theorie" der chinesischen "KommunistInnen" ihre Spuren. 2004 wurde die, in der schlechten Tradition theoretischer Verrenkungen des chinesischen Stalinismus, stehende "Theorie der drei Vertretungen" des langjährigen Parteiführers Jiang Zemin (1989 – 2002 Generalsekretär der KPCh) in die Verfassung aufgenommen. Demnach vertritt die KPCh nun "die fortschrittlichen Produktivkräfte", "das fortschrittliche kulturelle Erbe der Nation" und "die grundlegenden Interessen der überwiegenden Mehrheit des chinesischen Volkes" – und damit auch die Interessen der KapitalistInnen.

Seit 2002 dürfen KapitalistInnen (die in China lieber als "fortschrittliche Intellektuelle, die die Produktivkräfte entwickeln" bezeichnet werden) offiziell der Partei beitreten. 2003 waren rund 34% aller chinesischen KapitalistInnen Mitglieder der KPCh – und sind in ihr damit im Vergleich zur Gesamtbevölkerung deutlich überrepräsentiert. Mit Zhang Ruimin (Vorstandsvorsitzender von Haier, des weltweit viertgrößten Weißwaren-Herstellers) und Ma Fucai (Chef des Ölriesen Petro China) wurden zwei Großkapitalisten sogar ins Zentralkomitee gewählt.

Die neue Führung in Beijing, die so genannte "vierte Generation" unter der Leitung von Staatspräsident Hu Jintao (der gleichzeitig auch Generalsekretär der Partei und Armeechef ist) und Premierminister Wen Jiabao muss nicht nur die verschiedenen konkurrienden Partei-Fraktionen zusammenhalten, sondern sieht sich auch einem immer stärkeren widersprüchlichen sozialen Druck ausgesetzt. Einerseits will die Regierung den WTO-Bedingungen genügen und die heimischen KapitalistInnen fördern, andererseits häufen sich die sozialen Proteste.

Fußnoten:

[ 1 ] Hyekyung, Cho (2005): "Chinas langer Marsch in den Kapitalismus". Münster: Westfälisches Dampfboot, S. 35
[ 2 ] Deutsche Botschaft in Peking (2004): "Daten zur chinesischen Wirtschaft"
[ 3 ] Quelle: China Statistical Yearbook 2004
[ 4 ] Le Monde Diplomatique, 13.01.06
[ 5 ] Heberer, Thomas (2001): "Unternehmer als strategische Gruppen." Hamburg: Institut für Asienkunde, S. 155
[ 6 ] Peters, Helmut (2005): "China zwischen Gestern und Morgen". isw-Report Nr.61, München, S.12
[ 7 ] International Finance Cooperation (2005): "China's Ownership Transformation". Beijing
[ 8 ] China.org.cn, 26.09.06
[ 9 ] China Daily, 19.6.05
[ 10 ] zit. n. "Der Fischer Weltalmanach. Weltmacht China". Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuch Verlag, S.122
[ 11 ] ebd., S. 123
[ 12 ] Junge Welt vom 28.12.2004
[ 13 ] DB-Research: "Chinesische Firmen auf dem Vormarsch"., 07.09.06
[ 14 ] Handelsblatt, 24.06.05
[ 15 ] UN-World Investment Report 2005