Massenproteste gegen Arbeitsrechtsreform

 In Frankreich protestierten in den letzten Tagen hunderttausende Menschen gegen die reaktionäre Arbeitsrechtsreform der konservativen Regierung. Der neue "Vertrag für Berufseinsteiger" ermöglicht den KapitalistInnen, Beschäftigte unter 26 Jahren in den ersten zwei Jahren grundlos zu kündigen. Aber es geht um mehr …

  

Frankreichs JungarbeiterInnen in Häppchen serviert

Die Antwort der Straße ist deutlich: "NON au CPE"

Die Pflastersteine zitterten am Dienstagnachmittag noch unter den Füßen der 200.000 DemonstrantInnen in der französischen Hauptstadt Paris. ArbeiterInnen und StudentInnen erteilten der aggressiven Ausbeutungspolitik der konservativen Regierung eine klare Absage.

Landesweit demonstrierten mehr als 700.000 Menschen in 160 Städten am 7. März, dem Aktionstag, zu dem Gewerkschaften, SchüerInnen- und StudentInnenorganisationen, Oppositionsparteien (SozialdemokratInnen, KommunistInnen, Grüne) sowie die trotzkistischen Organisationen (LCR, LO) aufgerufen hatten. Am Tag danach zeigte sich die Regierung unbeeindruckt, doch die Straße hat ihr letztes Wort noch nicht gesprochen.

Unmittelbarer Anlass für die Proteste war ein neues Arbeitsvertragsgesetz, das den Einstieg der Jugendlichen in die Berufswelt regeln soll. Offiziell von der Regierung als Maßnahme gegen die hohe Jugendarbeitslosigkeit propagiert, stellt der so genannte "Contrat Premiere Embauche" (CPE/Vertrag für Berufseinsteiger) ein weiteres Geschenk an die Unternehmensbosse dar. Der Kern dieser Regelung, die alle Menschen unter 26 Jahren betrifft, ist die Ausdehnung der Probezeit auf zwei Jahre, während der das Berufsverhältnis zu jeder Zeit von den ArbeitgeberInnen gekündigt werden kann, ohne dass ein Motiv für die Entlassung angegeben werden muss. Die Kündigungsfrist beträgt zwei Wochen (oder ein Monat bei einer Beschäftigungszeit von mehr als vier Monaten). Als Abfindung sind nur 8% des Brutto-Lohns zu zahlen. Daneben wird den gefräßigen Bossen wohl angesichts der dreijährigen Befreiung von Sozialversicherungsabgaben das Wasser im Mund zusammenlaufen.

"Kleenex-Arbeitsverträge"

Der CPE-Vertrag wird meist als großer Bruder des CNE (Contrat nouvelle Embauche/Vertrag für Neueinstellungen) bezeichnet, der bereits seit August 2005 angewandt wird. Dieser beinhaltet großteils dieselben Regelungen wie sein Nachfolger, mit einer Einschränkung auf Betriebe mit weniger als 20 Beschäftigten aber ohne Altersbeschränkung. Die Tatsache, dass in nur sechs Monaten an die 350.000 CNE-Verträge abgeschlossen wurden, die Zahl der Arbeitslosen aber nach einer Periode mit leicht abfallender Tendenz Ende Februar wieder zugenommen hat, spricht Bände darüber, wie passend die Regelung auf die Bedürfnisse der Unternehmen zugeschnitten sind.

Noch deutlicher sind nur die Erfahrungen der Betroffenen, wie beispielsweise jener Frauen, die auf Grund ihrer Schwangerschaft entlassen wurden oder jenes 51-jährigen Automechanikers, den eine Firma im Departement Essonne bei Paris mit einem CNE-Vertrag eingestellt hatte – als Urlaubsvertretung, wie er bei seiner Entlassung ein Monat später erfuhr. Dasselbe Schicksal ereilte den Angestellten eines Supermarkts, der an seinem freien Tag in seinem Arbeitsplatz einkaufte und dabei anscheinend nicht adäquat gekleidet war (Jogginghose). Auch Beschäftigten, die es gewagt hatten, die Bezahlung von Überstunden einzufordern, wurde die Tür gewiesen.

Den KapitalistInnen werden angesichts dieser Politik Möglichkeiten eröffnet, die Erinnerungen an die Anfänge der Industrialisierung im 19. Jahrhundert wachrufen. Neben der großzügigen Abgabenbefreiung bringt die neue Regelung nämlich vor allem zwei Vorteile für das Kapital mit sich: Erstens führt das willkürliche Einstellen und Rausschmeißen von Beschäftigten direkt zur Profitsteigerung, da die Belegschaft flexibel an die Bedürfnisse angepasst werden kann (was von befragten UnternehmerInnen in Fernsehinterviews auch ohne Umschweife zugegeben wird). Zweitens können unliebsame (weil politisch aktive oder gewerkschaftlich organisierte Beschäftigte) mundtot gemacht werden. Darüber hinaus werden Frankreichs JungarbeiterInnen in Zukunft wohl auch bei Krankheit ihren Arbeitsplatz aufsuchen und während der Schwangerschaft arbeiten müssen.

De Villepin beeilt sich, Aufträge auszuführen

Die Arbeitsverträge CNE und CPE stellen die vorerst letzten Maßnahmen einer Politik dar, die sich völlig ungeschminkt in den Dienst der UnternehmerInnen und des Großkapitals stellt. Tatsächlich existiert bereits eine Vielzahl ähnlicher Verträge (bis dato 11), die den KapitalistInnen besonders durch Subventionen und Steuererleichterungen das Leben versüßen. So bringt zum Beispiel das Einstellen von Menschen, die kurz vor dem Verlust des Arbeitslosengeldes stehen (und deshalb jede noch so katastrophale Arbeitsbedingung akzeptieren) ebenso wie die Beschäftigung von 18 bis 25-Jährigen ohne Matura fette Zuwendungen. Nicht zu vergessen die oft unbezahlten Praktika und die prekär Beschäftigten der kreativ-künstlerischen Berufe.

Mit der Einführung des CPE reagiert die konservative französische Regierung – allen voran Premierminister Dominique de Villepin – auf die Wünsche der französischen KapitalistInnen, denen die Einschränkung des CNE auf Betriebe mit bis zu 20 Beschäftigten ein Dorn im Auge war. Wie aggressiv und unverhüllt die Bosse ihre Forderungen stellen, wird aus der Tatsache deutlich, dass die ArbeitgeberInnenvereinigung (Medef) heute mit der Einführung des CPE ihre Wünsche nicht vollständig erfüllt sieht. Laurence Parisot, Präsidentin des Medef, äußerte ihre "Zweifel", denn es sei "nie gut, wenn junge Arbeiter eine Sonderbehandlung erfahren". Dagegen wünscht sie sich einen einheitlichen Vertrag, für die Beschäftigten jeder Altersklasse und für alle Betriebe – also die Ausdehnung der CNE-Regelung auf alle ArbeiterInnen.

Bei dem derzeitigen Tempo der Regierung und angesichts der undemokratischen Maßnahmen, mit denen De Villepin seine "Reformen" durchsetzt, muss Parisot wohl nicht erst bis Weihnachten warten, um ihre Geschenke auszupacken. Das aktuelle Paket, voll gestopft mit Regelungen für den Sozialabbau und Angriffe auf das Arbeitsrecht, das mit der Herabsetzung des Lehrlingsantrittsalters auf 14 Jahre ganz nebenbei das Recht auf Bildung bis 16 abschafft, Kinderarbeit wieder einführt und Nachtarbeit für Minderjährige erlaubt, trägt den – offensichtlich in einem Unmaß von Zynismus erfundenen – Namen "Gesetz der Chancengleichheit". Es wurde durch ein besonders autoritäres Hilfsmittels im Parlament "beschlossen": Der Artikel 49-3 der Verfassung erlaubt der Regierung, die Nationalversammlung zu umgehen und ein Gesetz ohne Abstimmung durchzubringen.

Ein Jahr vor der Präsidentschaftswahl scheint es, als wolle Kandidat De Villepin mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln so schnell wie möglich alle Schulden und Aufträge erledigen, die ihn an das Kapital binden. Dadurch könnte er sich für die restliche Zeit zurückziehen und darauf hoffen, dass die französische Bevölkerung seine neoliberalen Auswüchse bis zur Wahl vergisst. Allerdings könnte es aber auch gut sein, dass sich der Premier die Unterstützung des Kapitals gegen seinen mächtigen innerparteilichen Gegner, Innenminister Nicolas Sarkozy, sichern will und deshalb ein momentanes Rekordtief in den Umfragen in Kauf nimmt.

Laut einer Umfrage des Instituts LH2, die am Vortag des Aktionstages vom 7. März in der Tageszeitung "Libération" publiziert wurde, sprachen sich nur noch 37% der Befragten zu Gunsten des Premierministers aus. Er verlor 7 Punkte gegenüber dem Vormonat. Sein Projekt CPE wurde von 58% abgelehnt, gegen 52% im Februar (63% bei den 18 bis 29-Jährigen). Ausschlaggebend für das Rekordtief des Premierministers ist sicher auch die Unfähigkeit der Regierung gegenüber der Mücken-Epidemie "Chikungunya" auf der zum französischen Territorium gehörenden Insel Reunion. Erst nachdem 157.000 Menschen von der Krankheit betroffen sowie 78 daran gestorben sind und die Wirtschaft des Gebiets beinahe zerstört ist, hielt es De Villepin für nötig, auf einen Lokalaugenschein vorbeizuschauen. Jetzt gehen 60 Mio. Euro an Firmen, unter anderem, damit diese Abwehrmittel gegen Mücken billiger zur Verfügung stellen. Natürlich trägt auch die Vogelgrippe nicht dazu bei, die Popularität der Regierung und ihrer VertreterInnen zu beflügeln.

Auch Sarkozy musste übrigens Federn lassen. Mit seinem Vorschlag, 3-jährige Kinder mit auffälligem Verhalten überwachen zu lassen, da dies erste Vorzeichen von Kriminalität seien, sprach er den FranzosInnen anscheinend nicht aus dem Herzen.

Im Wettkampf um den französischen Oscar für den neoliberalsten und autoritärsten Politiker des Jahres hätten zwar sowohl De Villepin als auch Sarkozy sehr gute Karten, allerdings konnte der Regierungschef in dieser Hinsicht dank der De-Facto-Privatisierung des Energieunternehmens GDF (Gaz de France) trumpfen. Beinahe im Alleingang ordnete er die Fusion zwischen der privaten Firma Suez und der 2004 teilprivatisierten GDF an. Die von den Gewerkschaften nach Protesten ausgehandelte Bedingung, dass der staatliche Aktienanteil nie unter 70% fallen darf, wird demnächst durch eine Gesetzesänderung einfach rückgängig gemacht. Die ArbeiterInnen wissen jetzt, was sie von faulen Kompromissen zu erwarten haben, mit denen die GewerkschaftsfunktionärInnen sie von der Straße wieder zurück in die Fabriken schicken.

Was die aktuelle Auseinandersetzung betrifft, so scheint Rémy Jouan, von der sozialdemokratischen Gewerkschaft CFDT die weiße Fahne bereits vor der Schlacht auszupacken: "Wir hoffen, dass die Mobilisierung es dem Premierminister zumindest ermöglicht, uns zu empfangen und zu akzeptieren, mit uns bei diesem Vertrag zusammenzuarbeiten", sagte er "Libération" am Vorabend der Massendemonstrationen.

Rückzug des CPE – aber nicht nur

Angesichts einer Regierungspolitik, die dazu bestimmt ist, das in Jahrhunderten erkämpfte Arbeitsrecht dem Kapital in Häppchen zu servieren, überrascht es nicht, dass am Dienstag der Rückzug des CPE nicht die einzige Forderung darstellte. Vielmehr protestierten Jugendliche und StudentInnen gemeinsam mit ArbeiterInnen aller Altersklassen (den über 57-Jährigen steht demnächst ein eigener Kurzzeit-Vertrag ins Haus), mit RentnerInnen (denen 2002 die Pensionen gekürzt wurden) und ForscherInnen (der "Pacte pour la Recherche/Pakt für die Forschung" ordnet die Forschungstätigkeit den Interessen privater Konzerne unter). Post- und Telekomangestellte waren anwesend, ebenso wie die Beschäftigten des öffentlichen Verkehrs von Marseille, die im vergangenen Herbst monatelang gegen die geplante Privatisierung gestreikt hatten.

Das absurde Vorhaben reformistischer Kräfte wie SozialdemokratInnen (PS), "KommunistInnen" (PCF), GewerkschaftsbürokratInnen und StudentInnengewerkschaften, die Proteste auf das CPE zu beschränken, war spätestens nach der Fusion Suez-GDF nicht mehr haltbar. Dennoch dominierte das Thema die Proteste und SchülerInnen und StudentInnen führten die verschiedenen Demonstrationszüge an. Sie sind es, die unmittelbar von der neuen Regelung bedroht sind. Ein unsicherer Arbeitsplatz bedeutet nicht zuletzt die Unmöglichkeit von Zukunftsplänen: Keine Bank wird CPE-Vertragsbeschäftigten Kredite genehmigen, der Traum einer Wohnmöglichkeit in der Nähe der Arbeitsstelle zerplatzt wie eine Seifenblase an den hohen Mietpreisen in den Großstädten und an VermieterInnen, die Wohnmöglichkeiten an die Bedingung einer festen Anstellung oder die Unterschrift reicher BürgInnen binden.

SchülerInnen und StudentInnen waren es auch, die seit dem ersten Aktionstag am 7. Februar (bei dem landesweit an die 300.000 Menschen auf der Straße waren) die Mobilisierung nicht abbrechen ließen. Und das, obwohl die französischen Schulen und Universitäten im Februar nacheinander (je nach Gebiet) Winterferien haben. Als in Paris beispielsweise die Ferien zu Ende waren, führten die dortigen StudentInnen den Protest weiter, der zuvor an Unis in Brest, Rennes, Lille, Toulouse oder Nantes begonnen wurden. Die Strategie der Regierung, StudentInnen betreffende Gesetze während den Ferien zu beschließen (kein typisch französisches Vorgehen wie wir aus Österreich wissen), ging somit nicht auf. Im Gegenteil: Am 6. März, dem Tag, an dem alle Schulen und Hochschulen den Betrieb wieder hätten aufnehmen sollen, waren 20 der 83 französischen Universitäten von StudentInnen besetzt. 38 Universitäten sind im Laufe des Monats in die Bewegung eingetreten. Die Generalversammlungen waren teilweise gerammelt voll. Durchschnittlich sah Frankreich im Februar keinen Tag ohne StudentInnendemonstrationen.

Die mediale Aufmerksamkeit war groß, als am Dienstagmorgen sogar die konservative, aber wegen des Mai '68 symbolträchtige, Université Sorbonne ihren Eintritt in die Bewegung ankündigte. Am Abend forderte die größte StudentInnenvertretung Udef alle Universitäten auf, in den Streik zu treten und die Mobilisierung fortzusetzen.

Protest gegen den CPE ist Protest gegen das kapitalistische System

Doch die Proteste können und dürfen nicht isoliert geführt werden. Es kann nicht genügen, dass Gewerkschaften zu Streik und Protesten an einzelnen Aktionstagen aufrufen, welche von den etablierten Parteien vor allem als Wahlwerbung benutzt werden. Wenn Erfolge wie 1986 und 1994 – als ähnliche Projekte der Regierung unter dem Druck der Straße zurückgezogen wurden – erreicht werden sollen, dann dürfen Frankreichs SchülerInnen, StudentInnen und ArbeiterInnen nicht auf reformistische PolitikerInnen vertrauen, die in der Vergangenheit selbst Privatisierungen und Sozialabbau (Fabius, Jospin) betrieben haben (und es auch in Zukunft zweifellos tun werden), oder auf GewerkschaftsbürokratInnen, die den kämpfenden ArbeiterInnen immer wieder in den Rücken gefallen sind. Nur ein gemeinsamer unbefristeter Generalstreik nagt am Profit jener, die die wirkliche Macht im Staat in den Händen halten. Es braucht eine revolutionäre ArbeiterInnenpartei, die die Interessen der Unterdrückten konsequent vertritt, ihre einzelnen Kämpfe bündelt und ihnen eine revolutionäre Stoßrichtung verleiht.

Diese muss die Zukunftssorgen der Jugendlichen ebenso wie die bestehenden Probleme der Beschäftigten bei jeder Gelegenheit thematisieren. Es geht nicht nur um einzelne Gesetze, nicht nur um einzelne Angriffe des Kapitals – das kapitalistische System als Ganzes muss in Frage gestellt werden. Denn De Villepin, der, wie er sagt, jene hört, "die demonstrieren, aber auch jene hört, die nicht demonstrieren" ist auf dem sozialem Ohr eindeutig taub. Er muss es sein, denn er hat eine hungrige Klientel zu bedienen, deren Appetit nicht nachlässt und nicht nachlassen kann solange sie sich ungeniert am reichhaltigen Buffet der Welt laben kann.

Valentin Stimpfl, Paris