Amnesty: 2 Minuten Zeit für kritische Fragen?

Amnesty international (AI) ist zweifellos eine der bekanntesten politischen Organisationen weltweit. Mit 1,8 Millionen Mitgliedern in 150 Ländern hat die Menschenrechtsorganisation bei ihren Aktionen bedeutenden Rückhalt, bei Imageumfragen rangiert sie – gemeinsam mit anderen Nichtregierungsorganisationen (NGO´s) – zumeist weit vor allen Parteien. Grund genug, hinter die Fassade zu blicken und die Grundsätze von AI einer kritischen Betrachtung zu unterziehen.

Hunderttausende Menschen engagieren sich weltweit für AI, schreiben Briefe, beteiligen sich an dringenden Interventionen – sogenannten Urgent actions – oder sind in AI-Gruppen aktiv. Zahllose weitere spenden Geld, weil sie sich für eine wichtige Sache engagieren wollen. Und zweifellos haben die Ideen von AI einen ernsten Hintergrund. In sehr vielen Ländern der Welt werden grundlegende Menschenrechte mißachtet (auch Österreich wird im AI-Jahresbericht laufend, vor allem mit polizeilichen Übergriffen auf MigrantInnen, erwähnt), Menschen werden gefoltert und ermordet.

Die Idee, sich für die Rechte von Gefangenen zu engagieren, ist nicht neu. Auch die ArbeiterInnenbewegung hat seit ihren Ursprüngen darauf geachtet, ihre politischen Gefangenen nicht völlig ohne Unterstützung zurückzulassen. In Österreich und Deutschland gründeten die Kommunistischen Parteien die Rote Hilfe, die in Österreich beispielsweise nach dem verlorenen BürgerIn-nenkrieg von 1934 die Angehörigen von Verhafteten oder Ermordeten unterstützte. Auch der AI-Gründer Peter Benenson stammt aus einer ähnlichen Tradition. In jungen Jahren engagierte er sich für die Adoption von Waisenkindern aus dem spanischen BürgerInnenkrieg und für die Rettung von jüdischen Flüchtlingen, die vor dem Naziregime nach England flüchteten. Doch dieser Respekt vor dem Engagement vieler Menschen darf nicht dazu führen, die Augen vor wesentlichen Fragen in der politischen Ausrichtung von AI zu verschließen.

Lassen wir zu Beginn AI selbst zu Wort kommen: "ai arbeitet für die Freilassung von gewaltlosen politischen Gefangenen, d.h. von Männern und Frauen, die irgendwo auf der Welt wegen ihrer Überzeugung, Hautfarbe, ethnischen Herkunft, Sprache, wegen ihres Glaubens oder ihres Geschlechts inhaftiert sind und Gewalt weder angewandt noch zu ihrer Anwendung aufgerufen haben." In diesem kurzen Text zeigen sich bereits viele der grundlegenden Positionen von AI. Hinzugefügt werden müsste noch der Kampf gegen die Todesstrafe und gegen Abschiebungen und das – in den letzten Jahren allerdings aufgeweichte – Prinzip, nicht im eigenen Land aktiv zu werden.

Auf den ersten Blick klingt das natürlich sehr gut, wer könnte etwas gegen diese Grundsätze einwenden? Doch übersetzen wir sie in die Realität des politischen Lebens auf diesem Planeten, müssen wir wesentliche Anmerkungen machen:

Gewaltfrage

AI lehnt Gewaltanwendung grundsätzlich ab, dementsprechend werden nur solche Gefangene als Gewissensgefangene anerkannt, die "Gewalt weder angewandt noch zu ihrer Anwendung aufgerufen haben" (Ausnahmen werden gemacht, wenn Gefangene von Folter oder Todesstrafe bedroht sind). So weigerte sich AI beispielsweise, KämpferInnen gegen das rassistische Apartheid-Regime in Südafrika zu unterstützen. Der spätere südafrikanische Ministerpräsident Nelson Mandela, etwa, der für 25 Jahre inhaftiert war, konnte nie Gewissensgefangener von AI werden, weil er bewaffneten Widerstand geleistet hatte. Auch trotzkistische AktivistInnen, die sich zur Verteidigung ihrer Siedlungen (Townships) gegen Übergriffe Waffen besorgt hatten und vom Apartheid-Regime inhaftiert wurden, durften nicht auf Unterstützung durch AI hoffen. Ähnliches gilt für den Widerstand gegen rechtsextreme Militärdiktaturen in Mittel- und Südamerika.

Letztlich lehnt damit AI die Unterstützung all derer ab, die – vor allem unter den Bedingungen von Diktaturen – konsequent für ihre Freiheit kämpfen. Die KämpferInnen des Februar 1934 in Österreich, die TeilnehmerInnen am spanischen BürgerInnenrkrieg gegen den Faschismus, die slowenischen PartisanInnen in Kärnten während des zweiten Weltkriegs, die KämpferInnen gegen die, teils durchgehend bis in die 70er Jahre, existenten Militärregimes in Portugal, Spanien, Griechenland oder der Türkei – alles keine Fälle für Amnesty.

Diesen Zugang zur Gewaltfrage halten wir für sehr einfach. Letztlich bedeutet er, Menschen, die im Widerstand stehen, aus der bequemen Perspektive von Bürosesseln die Wahl ihrer Mittel streitig zu machen. Gerade wird in Österreich der 60. Jahrestag der Befreiung vom Faschismus gefeiert. Ob wir dieses Jubiläum begehen könnten, wenn im Kampf gegen die Nazi-Barbarei ausschließlich gewaltfreie Mittel angewendet worden wären? Es ist jedenfalls kaum anzunehmen, dass sich die Nazi-Diktatur wegstreicheln hätte lassen.

Politische Gefangene

AI unterstützt politische Gefangene, unabhängig von deren Meinungen und Positionen. Was das in Konsequenz bedeutet, beschreibt eine ältere Ausgabe eines österreichischen AI-Handbuches, wenn als Beispiel für einen Gewissensgefangenen, der von AI unterstützt würde, ein Nazi angegeben wird, der für seine Ideen inhaftiert wurde (solange dieser nicht offen zur Gewalt aufgerufen hat). Grundsätzlich könnten österreichische Neonazis, die nach dem Verbotsgesetz verurteilt werden, sich um Beistand an AI wenden. Was allerdings diese Nazis und ihre Freunde tun würden, wenn sie an der Macht wären, steht auf einem anderen Blatt. Offensichtlich eines, das AI bisher nicht gelesen hat.

Abschiebungen

Auch bei Abschiebungen greift AI nur dann ein, wenn die "Inhaftierung als gewaltlose politische Gefangene" droht, oder wenn die Abzuschiebenden von Folter oder Todesstrafe bedroht sind. Oder wie es AI Deutschland im Oktober 2004 in einem Kommentar zum Zuwanderungsgesetz der BRD schreibt: "Aufgrund des eigenen Arbeitsbereiches äußert sich amnesty international nur zu den Bereichen des Gesetzes, die Flüchtlinge im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) oder Menschen betreffen, denen im Falle ihrer Abschiebung schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen drohen, wie Folter, erniedrigende und unmenschliche Behandlung oder eine Gefahr für Leib und Leben."

Jemand wie Marcus Omofuma, der bei seiner Abschiebung von österreichischen Schubhaftpolizisten ermordet worden ist, ist dementsprechend erst nach seinem Tod ein Fall für AI geworden, gegen seine Abschiebung hingegen wären keine Schritte ergriffen worden. Mit dieser Politik spielt AI nicht nur das absurde Spiel der Trennung in "politische Flüchtlinge" und "Wirtschaftsflüchtlinge" mit (denn wie kann die Situation wirtschaftlich rückständiger Staaten unabhängig von der Ausbeutung, etwa der Schuldenpolitik, des internationalen Kapitalismus und seiner politischen EntscheidungsträgerInnen gesehen werden?), sondern geht sogar noch weiter, indem nicht einmal alle Abschiebungen, in deren Folge Gefängnis droht, verhindert werden, sondern nur solche, die klare Menschenrechtsverletzungen zur Folge haben.

Arbeit im eigenen Land

Lange Jahre hatte AI das unbedingte Prinzip, dass die jeweilige Sektion im eigenen Land nicht arbeiten solle. Hintergrund war nicht zuletzt der Schutz der eigenen AktivistInnen. Vor allem unter dem Eindruck der Asylpolitik ist dieser Paragraph, unter anderem auf Vorschlag einiger europäischer Sektionen (die in ihren Ländern kaum Repression befürchten müssen), aufgeweicht worden. Dennoch beschränkt sich die Arbeit auch hierzulande zumeist auf das Abfassen von Stellungnahmen zu Gesetzesvorlagen, Medienarbeit, die Herausgabe des AI-Länderjahresberichts und auf Interventionen in den oben beschriebenen ausgewählten Fällen von Asyl-rechtsverletzungen.

AI hat eine enorme Reputation. Würde Amnesty beispielsweise zu einer Großkundgebung oder -demonstration gegen das wahrhaft mörderische österreichische Asylrecht aufrufen, der Widerhall wäre zweifellos enorm. Zehntausende Menschen könnten in der Kampagne für eine solche Demonstration sensibilisiert und politisiert werden. Doch das ist nicht der Weg von AI. Das ist aber sehr wohl der Weg der revolutionären Linken. Wir setzen uns für ganz bestimmte Gefangene ein, nämlich für diejenigen, die für eine bessere, eine gerechtere, eine sozialistische Welt einstehen und verbinden dieses Eintreten mit dem Versuch, Menschen, in dem Land, in dem wir wohnen, auf die Straße zu bringen und so das gesellschaftliche Klima im Land ein Stück weit zu verändern.