"Sie sind arrogant, aggressiv wenn sie in Gruppen auftreten, die Sprache ist unzumutbar, sie bleiben lieber unter sich, sie nehmen die Arbeitsplätze weg oder arbeiten zu Dumpinglöhnen – kurzum: sie sind nicht integrationswillig und anpassungsfähig." Auf den ersten Blick könnte man/frau meinen, es handle sich hier um typische Vorurteile gegen MigrantInnen aus Süd/Osteuropa und der Türkei, wie sie in vielen europäischen Ländern vorherrschen. Weit gefehlt, es handelt sich um Ressentiments, die seit einiger Zeit von zum Teil medial aufgehetzten SchweizerInnen den deutschen EinwanderInnen und ArbeitsmigrantInnen entgegen gebracht werden.
Der MigrantInnen-Anteil in der Schweiz ist verglichen mit anderen europäischen Ländern relativ hoch und liegt bei circa 20,4%. Davon ist laut Statistik 2007 die stärkste Gruppe die ItalienerInnen mit 19%. An zweiter Stelle folgen die SerbInnen mit 12%, die Deutschen sind mit 11% mittlerweile die drittstärkste EinwandererInnengruppe und haben 2007 somit die PortugiesInnen überholt. Die verstärkte deutsche Migration zeigt sich auch daran, dass diese Gruppe im vergangenen Jahr die stärkste Zunahme (9%) zu verzeichnen hatte. Obwohl auch hierzulande JugoslawInnen, TürkInnen und EinwandererInnen aus afrikanischen Ländern unter den mit Abstand unbeliebtesten MigrantInnengruppen rangieren, ist der Wind gegenüber Deutschen jedoch spürbar schärfer geworden.
Das ist umso interessanter als ein erheblicher Teil der deutschen Bevölkerung findet, dass in ihrem "eigenen Land" Deutschland "zu viele Ausländer" leben und sich demenstprechend von "Überfremdung", insbesondere durch TürkInnen, die die grösste Minderheit darstellen, bedroht fühlt. Gerade den türkischen MigrantInnen wird dann gern die absichtliche Errichtung von Parallelwelten unterstellt, weil sie sich angeblich nicht integrieren wollen. Wie kommt es, dass nun gerade Deutsche in der Schweiz mit den gleichen Vorwürfen konfrontiert werden und gerade bzw. erstmals hier erfahren müssen, wie schnell und vor allem wie ungerechtfertigt Vorurteile entstehen. Da hilft auch die permanente Betonung von deutscher Seite nichts, dass man ja eigentlich aus dem gleichen "Kulturkreis" kommt.
Die verstärkten Vorurteile gegen Deutsche in der Schweiz haben eine materielle Grundlage, die aber nicht im Wesen der Deutschen oder der Rolle, die sie im Gastgeberland spielen, liegt, sondern in den sozio-ökonomischen Entwicklungen der beiden Länder in den letzten Jahrzehnten: Die Schweiz war schon immer ein beliebtes Auswanderungsland für Deutsche, lange Zeit jedoch dominierte die Auswanderung in den privilegierten, hoch qualifizierten Berufen. So sind auch 2006 noch ca. 41% aller deutschen MigrantInnen in akademischen Berufen tätig. Die Schweiz hat viele Universitäten und verglichen mit den Gehältern in der Privatwirtschaft waren die Universitätsstellen lange Zeit nicht sonderlich attraktiv für privilegierte schweizer AkademikerInnen. Für deutsche Verhältnisse konnte im Hochlohnland Schweiz selbst die migrationswillige Bildungsbourgeoisie immer schon gut verdienen.
Mit der Zunahme der Arbeitslosigkeit in den 90er Jahren wurden die akademischen Berufe aber wieder interessanter für die Schweizer und Schweizerinnen, die Jobmöglichkeiten in der Privatwirtschaft nahmen ab und parallel dazu wurde der hohe Anteil an deutschen AkademikerInnen in der Schweiz immer öfter thematisiert.
Zusätzlich und für die aktuelle Debatte wahrscheinlich wichtiger führten die massive Arbeitslosigkeit sowie der zeitgleiche Abbau von Arbeitslosengeld und anderen sozialen Absicherungen zu einer erhöhten Arbeitsmigration aus Deutschland und zwar im Bereich der HandwerkerInnen, kleinen und der mittleren Angestellten. Seit geraumer Zeit sehen sich nun die schweizerischen Mittelschichten, KleinbürgerInnen aber auch Arbeiter- und Arbeiterinnen mit erhöhter und gut ausgebildeter Konkurrenz aus Deutschland konfrontiert.
Das hiesige Kapital unternimmt natürlich alles, um diese Gruppen gegen einander auszuspielen und im gleichen Atemzug bestmöglich auszubeuten: Auf der einen Seite niedrigere Löhne und schlechte Arbeitsbedingungen für ArbeitsmigrantInnen, die auf die Jobs angewiesen sind. Auf der anderen Seite das Schüren von Ängsten um den Arbeitsplatz in Richtung Schweizer ArbeiterInnen. Diese Taktik des Kapitals wird durch die gegenseitige nationalistische Hetze gut kaschiert und funktioniert noch besser, wenn sie durch bürgerliche Boulevard-Zeitungen wie den "Blick" unterstützt wird oder PolitikerInnen der rechts-extremen Schweizerischen Volkspartei (SVP) – die als KapitalistInnen von der Arbeitsmigration durchaus profitieren – Schweizerdeutsch Kurse für Deutsche fordern. Das führt zu absurden Situationen, dass sich etwa kleinbürgerliche SchweizerInnen mit streikenden ArbeiterInnen nur deshalb solidarisieren, weil der Firmen-Boss Deutscher ist und ArbeiterInnen sich aber umgekehrt Schweizer KapitalistInnen näher fühlen als ihren KollegInnen aus anderen Ländern.
Natürlich geschieht es jenen Deutschen, die selbst rassistisch sind, recht, wenn sie auch mal merken, was es heisst, MigrantIn und mit Vorurteilen konfrontiert zu sein. Es ist aber auch keine Überraschung, dass Leute, die sich unwillkommen fühlen eher unter sich bleiben. Das machen türkische MigrantInnen in Deutschland genauso wie deutsche MigrantInnen in Zürich. Die Bereitschaft zum Aufbrechen von nationalen Abschottungen sollte daher von beiden Seiten kommen, und nicht die völlige Anpassung der einen Gruppe an die andere voraussetzen.
Eine Lösung für dieses Problem gibt es nur, wenn man/frau einen konsequenten internationalistischen Klassenstandpunkt einnimmt. Am einfachsten ist das, wenn die Klassenidentität vor der nationalen Identität betont wird und die gemeinsamen Interessen als Lohnabhängige in den Vordergrund rücken. Für ihre Profite ist es den KapitalistInnen nämlich egal, ob sie MigrantInnen, InländerInnen, Frauen oder Männer ausbeuten. Für die Aufrechterhaltung ihrer Herrschaft ist die soziale, ethnische, nationale und geschlechterspezifische Spaltung der ArbeiterInnenklasse jedoch zentral – so wird die Herrschaft des Kapitals nicht oder nicht besonders laut in Frage gestellt. Schweizer und deutsche ArbeiterInnen sollten sich daher solidarisieren und gemeinsam gegen das schweizer, deutsche und internationale Kapital kämpfen. Dieser Kampf wird aber nur zum Erfolg führen, wenn es gelingt, alle MigrantInnengruppen und gleichermassen Frauen mit einzubeziehen, also Schichten, die im Vergleich zu einheimischen und deutschen ArbeiterInnen weit mehr ausgebeutet werden.
Insofern sollte sich die ArbeiterInnenklasse also bemühen, ihre nationale Unterschiedlichkeit im Kampf gegen den Kapitalismus zu ihrem Vorteil einzusetzen. Man/frau konnte hier schon einiges in Sachen Streikkultur von den italienischen MigrantInnen lernen. Und auch deutsche Einwanderer, vor allem Revolutionsflüchtlinge von 1848 haben schon im 19. Jahrhundert einen grossen Anteil am Aufbau der ersten Organisationen der schweizerischen ArbeiterInnenbewegung geleistet. Das sind die Traditionen, auf die man/frau in dieser unheilvollen Diskussion verweisen sollte: Der Kampf der ArbeiterInnenklasse muss internationalistisch sein – die ArbeiterInnen haben kein Vaterland.