Dimitrije Tucovic: Serbien und Albanien (M 15)

Dimitrije Tucovic, der Führer der revolutionären serbischen Sozialdemokratie, schrieb 1914 – anlässlich des 2. Balkankrieges 1913 – die vorliegende Broschüre Serbien und Albanien. Im Unterschied zum 1. Balkankrieg, wo Serbien, Bulgarien und Griechenland im Bündnis gegen die türkische Herrschaft kämpften, gerieten im nachfolgenden die früheren Verbündeten vor allem über die Aufteilung Make-doniens aneinander. Hauptverlierer in diesem Krieg war Bulgarien, das Gebiete abtreten und auf Makedonien verzichten musste.

Serbien eroberte zwar den größten Teil von Makedonien, aber das andere, eigentlich viel wichtigere Kriegsziel der serbischen Monarchie, ein direkter Zugang zum Meer, konnte nicht erreicht werden. Montenegro, der serbische Bruderstaat an der Adria, war durch den Sandschak, eine moslemisch besiedelte Enklave, von Serbien getrennt. Die montenegrinische Dynastie hatte darüberhinaus überhaupt kein Interesse, in einem serbischen Gesamtstaat nur noch die zweite Geige zu spielen. Ein Krieg zwischen Serbien und Montenegro war in breiten Volksmassen nicht populär, aus der Sicht der serbischen Kapitalistenklasse musste also ein anderer Ausweg gefunden werden. Das war – im Anschluss an den 2. Balkankrieg – der Hintergrund des serbischen Feldzuges gegen Albanien und vor allem gegen die Albaner, die zu großen Teilen im 1. Balkankrieg sich an Aufständen gegen die türkischen Besatzer beteiligt hatten.

Dimitrije Tucovic schildert mit eindringlicher Genauigkeit die damaligen Lebens-verhältnisse der albanischen Bevölkerung, ihre soziale und ökonomische Entwick-lung, ihre politischen Parteien, die entsprechend der gesellschaftlichen Entwicklung sich notwendigerweise noch in einem embryonalen Stadium befunden haben. Darüberhinaus weist er auf die enge geschichtliche, territoriale und sogar verwandt-schaftliche Nähe zwischen dem serbisch-montenegrinischen und dem albanischen Volk hin. Er entlarvt den Mythos von der ewigen Feindschaft der beiden Völker und die chauvinistische Propaganda von der kulturellen Rückständigkeit der Alba-ner als eben dieselben Lügen und Vorwände, mit denen schon die imperialistischen Mächte Großbritannien und Frankreich ihre blutige Unterjochung ganzer Konti-nente als "zivilisatorisches Werk" zu tarnen suchten.

Im albanischen Feldzug zerstörten die serbische Kapitalistenklasse und ihre Monarchie nicht nur die engen historischen und sozialen Bande zu einem benach-barten Volk, sie erleichterten es auch den imperialistischen Mächten Österreich-Ungarn und Italien, sich in der Region – als "Schutzmacht" – festzusetzen. Serbien musste, unter Androhung eines Krieges der interessierten imperialistischen Mächte, Albanien wieder räumen. Albanien wurde zur österreich-ungarischen und italie-nischen Einfluss-Sphäre. Die tausenden serbischen Kriegstoten, die, wie Dimitrije Tucovic mit beißendem Spott beschreibt, vor allem der dilletantischen serbischen Kriegsführung geschuldet waren, die grausamen Massaker an der albanischen Zivil-bevölkerung, die darüberhinaus ökonomisch ausgeplündert wurde, führten am Ende zu nichts als zu einem völligen Desaster der kolonialistischen Bestrebungen der serbischen herrschenden Klasse. Gleichzeitig verlor der serbische Nationalismus damit erstmals seinen Anspruch auf einen gerechten Kampf für nationale Befreiung – indem er die Rechte eines anderen Volkes mit Füßen trat.

In der albanischen Bevölkerung entstanden – als Reaktion auf die Politik der serbischen Bourgeoisie und ihrer Armee – massive antiserbische Ressentiments. Und mehr noch: Der Imperialismus, der Todfeind aller Unterdückten, konnte sich in Albanien als Protektor aufspielen. Die serbische Kapitalistenklasse war in einer Welt, wo die großen imperialistischen Mächte um Einflusszonen rangen (was schließlich zum 1. Weltkrieg führen sollte), dazu verdammt, die Rolle eines Junior-partners und Handlangers größerer Mächte am Balkan zu spielen – oder eben gar keine.

Dimitrije Tucovic zeigt auf, dass nur eine Politik, die auf Vereinigung aller Balkanvölker auf dem Prinzip der Freiwilligkeit in Kombination mit einem Kampf gegen das kapitalistische Ausbeutersystem die notwendige soziale und ökono-mische Grundlage für die weitere Entwicklung aller Völker am Balkan legen kann. Die revolutionäre Kommunistische Internationale (vor ihrer stalinistischen Dege-neration) versuchte dem mit der Ausrichtung auf eine sozialistische Balkan-föderation Rechnung zu tragen. Das Tito-Jugoslawien, in seiner ganzer Unzuläng-lichkeit, deutete immerhin die Möglichkeiten an, die eine größere Balkanföderation auf wirklich sozialistischer Grundlage allen Völkern des Balkans, einschließlich der Albaner, bieten würde. Um dieses Ziel zu erreichen, wird es notwendig sein, wie die serbischen Sozialdemokraten unter Tucovic, gegen Chauvinismus und Unterdrückung durch die eigene herrschende Klasse als auch gegen die imperiali-stischen Ansprüche und gewaltsamen Versuche der Unterjochung (gleich unter welchem Vorwand diese erfolgen) zu kämpfen.

Dimitrije Tucovic hatte sich schon früher mit der albanischen Frage auseinander-zusetzen begonnen. Schon in "Borba" (Kampf) vom 1. (14.) Mai 1910 erschien sein wichtiger Artikel Die albanische Frage, in dem er den Kampf der Albaner für einen selbständigen Nationalstaat unterstützte. Neben der Verwendung von heimischer und ausländischer Literatur bemühte er sich, Daten über die Albaner, über die Ziele ihres Kampfes, die Eroberungspläne Österreich-Ungarns, Italiens und der Balkan-staaten gegenüber den aufzuteilenden albanischen Stämmen zusammenzutragen.

Auch während der beiden Balkankriege blieb die Albanienfrage bis zuletzt aktuell. Das veranlasste Dimitrije Tucovic, sich mit dieser Problematik auseinanderzusetzen und die Politik der serbischen Regierung gegenüber den Albanern einer argumen-tierten Kritik zu unterziehen. Während des 1. Balkankrieges begann Tucovic intensiv, Quellen zu untersuchen und sein Werk Serbien und Albanien zu schreiben. Als Dimitrije Tucovic im April 1913 mit der serbischen Armee durch das nördliche Albanien marschiert, nutzt er einen Aufenthalt in Elbasan, um notwendige Daten zu sammeln, die er dann im Buch Serbien und Albanien verwendet.

Nach seiner Demobilisierung im August 1913 beendet Tucovic in den darauf-folgenden Monaten sein Manuskript Serbien und Albanien, in der Zwischenzeit erscheint auch sein bekannter Artikel Albanische Briefe in "Borba" (Kampf) vom 1. (14.) und 16. (29.) November 1913.

Sicher, in einigen Punkten scheint die Studie von Tucovic heute überholt zu sein – etwa in seiner unkritischen Bezugnahme auf die Nationalitätentheorie von Otto Bauer und dessen These einer "Kulturgemeinschaft", in seiner etwas zu einseitigen Darstellung der napoleonischen Feldzüge oder in der durchgehenden Kenn-zeichnung der Produktionsverhältnisse im Osmanischen Reich als Feudalsystem. Ohne auf die Diskussion über die asiatische Produktionsweise hier eingehen zu können, sei doch auf die Problematik der Übertragung der vom mittelalterlichen Lehenswesen ausgehenden Begriffe wie Feudalismus oder feudale Strukturen auf das Türkische Reich hingewiesen. Und auch in der Sprache ist heute die Wortwahl sensibler geworden: Etwa wird von Tucovic mehrfach der Begriff "Rasse" – wenn auch meist im kritischen Bezug auf nationalistische Schriftsteller – verwendet oder undifferenziert von "wilden und primitiven afrikanischen Stämmen", von der Primitivität der albanischen Stämme oder von einem "Volksaufstand primitivster Stämme" gesprochen – Tucovic ist hier das Kind seiner Zeit.

Dass das aber im wesentlichen terminologische Fragen sind, die hier zur Diskussion stehen und kein rassenbiologisches oder den Kolonialismus rechtfertigendes Konzept hinter der im Buch verwendeten Ausdrucksweise steht, beweisen wohl am schönsten die nachfolgenden Zeilen. Man müsse, so Tucovic in direkter Polemik gegen den verheerenden Einfluss des serbischen Nationalismus,

"vor allem mit einer wissenschaftliche Lüge brechen, die man uns seit dem Feldzug der serbischen Armee in Albanien in hundertfacher Weise auftischt, obwohl sie in der Wissenschaft schon längst zum alten Eisen gehört. Die Elemente, die eine Nation zur Nation machen, und die Faktoren, die die Bedingungen für ein gemeinsames Staatsleben definieren, kann kein ernsthafter Mensch durch Vermessen von Schädeln und Rassenforschung aufdecken, sie werden von der Geschichte und Sozialisation bestimmt."

Und in Bezug auf die Kolonialkriege lässt Tucovic ebenfalls keine Unklarheiten aufkommen: Die serbischen Regierenden hätten gegenüber den Albanern "ihr Register von Grausamkeit und kolonialen Morden" eröffnet und stünden somit "auf der gleichen Stufe mit den Engländern, Holländern, Franzosen, Deutschen, Italienern und Russen." Angeklagt wird "die Bereitschaft der serbischen Bourgeoisie, ihre Ziele durch brutale Verbrechen zu realisieren, die bisher nur in Überseekolonien begangen wurden." Für Tucovic war klar, auf wessen Seite die Arbeiterbewegung zu stehen habe: Es sei keine Frage, dass ein Volksaufstand "immer noch humaner ist als die Praxis eines stehenden Heeres, das ein moderner Staat gegen Aufständische einsetzt"…

Ein wesentlicher Kritikpunkt erscheint uns aber – aus heutiger Sicht – noch bedeutend zu sein. Dimitrije Tucovic ging davon aus, dass die "nationale Befreiung der Balkanvölker ohne eine Vereinigung des gesamten Balkans zu einer Gemeinschaft nicht möglich sei" Daraus entwickelte Tucovic die Perspektive einer Föderation der Balkanvölker. Zurecht ging er davon aus:

"Durch die Vereinigung der politischen Kräfte und des wirtschaftlichen Fort-schrittes würden die Balkanvölker unabhängiger und könnten den Eroberungs-bestrebungen der kapitalistischen europäischen Staaten eher Widerstand leisten."

Und weiter:

"Falls etwas politische Realität am Balkan hat, dann ist das die Notwendigkeit einer Gemeinschaft der Balkanvölker. Zur Überzeugung dieser Notwendigkeit gelangt man durch die Beobachtung der tatsächlichen Situation auf der Balkan-halbinsel. Wie ein offenes Buch, das so präzise unsere Zukunft zeichnet, liest sie sich dann, und nur jene Politik der Balkankleinstaaten, die diesen Gedanken zu ihrem wichtigsten Grundsatz erklärt, ist realistisch."

Das Problem liegt nun darin, dass von Tucovic weder eine klassenmäßige Bestimmung dieser Föderation der Balkanvölker vorgegeben wird noch der Klassencharakter des Staates, der aus dieser Vereinigung hervorgehen hätte können. Oder anders gesagt: Aus der Tatsache, dass das Proletariat als der soziale Träger dieser Vereinigung geortet wurde und die Bourgeoisie als Basis einer solchen Vereinigungstendenz nicht in Frage kam, folgt bei Tucovic noch nicht, dass nur eine Föderation sozialistischer Republiken am Balkan als Ziel einer revolu-tionären Strategie in Frage hätte kommen können. Das allerdings war kein individueller Fehler von Dimitrije Tucovic. In der "Entschließung der ersten Konferenz der sozialdemokratischen Parteien des Balkans", die in Beograd am 9. Jänner 1910 angenommen worden war, finden wir dieselbe Unbestimmtheit, wenn als Ziel eine "Union" angegeben wird, "die die moderne wirtschaftliche und politische Autonomie erfordert". Die Konferenz hielt es für

"ratsam, jeden Antagonismus zu bekämpfen, der zwischen den Völkern Südosteuropas besteht, sowie ein Verständnis zwischen ihnen herzustellen und mit aller Macht die Bestebungen zu unterstützen, die darauf hinzielen, die vollständige demokratische Autonomie der Völker und die Unabhängigkeit der Nationen zu verwirklichen."

In diesem Sinne war die Perspektive einer Balkanföderation, wie sie von den sozialdemokratischen Parteien des Balkanraumes um 1910 entwickelt worden war und wie sie auch von Tucovic vertreten wurde, ein zwar gewaltiger Schritt nach vorne, aber eben doch ein politisch begrenzter. Nur Leo Trotzki hatte mit seiner Theorie der permanenten Revolution – und auch das nur für Russland – vor 1917 schon den Schluss aus der Unfähigkeit der Bourgeoisie gezogen, in Russland die demokratische Umgestaltung der Gesellschaft zu vollenden, dass nicht nur das Proletariat der soziale Träger dieser Umgestaltung sein müsse, sondern dass das auch mit einer sozialistischen Perspektive, einer Perspektive auf den Sturz der kapitalistischen Gesellschaftsordnung, verbunden werden müsse. Die Perspektive der Balkanföderation, wie sie vom linken Flügel der bulgarischen Sozial-demokraten, den sogenannten Engherzigen, der Serbischen Sozialdemokratischen Partei unter Tucovic, überhaupt der Linken in der europäischen Sozialdemokratie (inklusive W.I. Lenin) und selbst von Trotzki argumentiert wurde, erinnerte demgegenüber in ihrer Logik viel eher an die begrenzte bolschewistische Losung (vor Lenins "Aprilthesen" 1917) einer "demokratischen Diktatur der Arbeiter und Bauern" als an die Theorie der permanenten Revolution, die von Trotzki erst in den 1920er Jahren verallgemeinert wurde.

Von diesen Schwächen aber einmal abgesehen, beweist aber die Studie von Tucovic einen geradezu unheimlichen Weitblick: Seine Analyse der zersetzenden Wirkungen des Nationalismus ist heute ebenso aktuell wie sein Vorwurf an die Herrschenden in Beograd, gerade erst durch ihre Politik die junge albanische Nation in die Arme des Imperialismus getrieben zu haben. Es klingt sehr zeitgemäß, wenn Tucovic die Verhältnisse am Balkan analysiert und abschließend – mit Bezug auf die Politik Serbiens – feststellen muss:

"Grenzenlose Feindschaft des albanischen Volkes Serbien gegenüber ist das erste wirkliche Resultat der Albanienpolitik der serbischen Regierung. Das zweite, noch gefährlichere Resultat ist die Stärkung zweier Großmächte in Albanien, die am Balkan die größten Interessen haben. Diese Erfahrung zeigt einmal mehr, dass jede Feindschaft zwischen den Balkanvölkern nur ihrem gemeinsamen Feind zugute kommt. (…) Dort, wo Freundschaft eigentlich das Bedürfnis beider Seiten ist, herrscht heftige Feindschaft, und freundschaftliche Beziehungen entstehen zwischen zwei Seiten [Albanien und den Großmächten], von denen die eine im vornherein verdammt ist, das Opfer der anderen Seite zu sein."

Noch ein Wort zur Rechtschreibung: Wir haben mit dieser Ausgabe von Marxismus erstmals in der gesamten Nummer und konsequent – auch was die Zitate betrifft – die neue Orthografie verwendet. Wir hoffen, dass die Umstellung keine allzu großen Schwierigkeiten bereitet!

Miodrag Jovanovic / Manfred Scharinger

 

 

Serbien und Albanien 

Ein kritischer Beitrag

zur Unterdrückungspolitik der serbischen Bourgeoisie

Vorwort

Wir werden uns hier etwas genauer mit der albanischen Frage befassen, mehr noch aus praktischen Bedürfnissen heraus als aus theoretischen Interessen. Die Albanien-politik unserer Regierung endete mit einer Niederlage, die große Opfer forderte. Noch größere Opfer wird die Zukunft fordern. Die Unterdrückungspolitik der ser-bischen Regierung gegenüber dem albanischen Volk schuf an der Westgrenze Serbiens Bedingungen, die in baldiger Zukunft weder Frieden noch einen normalen Zustand erlauben werden. Gleichzeitig wurde Albanien damit in die Arme zweier Großmächte gestoßen, die am westlichen Balkan die größten Interessen haben, und jede Stärkung des Einflusses, egal welches kapitalistischen Staates auf der Balkan-halbinsel, bedeutet eine echte Gefahr für Serbien und die normale Entwicklung aller Balkanvölker.

Aber um dem praktischen Ziel zu entsprechen, müssen wir uns mit den Umständen in Albanien befassen. Das scheint um so notwendiger, als erstens unsere Presse in einem vernichtenden Wettkampf versuchte, eine schlecht informierte und schlecht ausgeführte Politik zu unterstützen und somit monate-, ja jahrelang über das alba-nische Volk tendenziöse Meinungen verbreitete, und zweitens durch solche Mei-nungen auch die Regierung ihre Unterjochungspolitik in Albanien zu rechtfertigen versuchte.

Mehr Information über die Interessenskonflikte in dieser Gegend des Balkan sollte einer richtigeren Auffassung der Umstände in Albanien und einer besseren Be-ziehung zwischen dem serbischen und dem albanischen Volk dienen. Besonders das Proletariat bedarf einer besseren Information, dessen wichtigste Aufgabe es ist, entschieden gegen die Unterdrückungspolitik der Bourgeoisie aufzutreten und somit in einer aktuellen, praktischen Frage zu zeigen, wie gut und heilsam die Arbeit der Sozialdemokratie am Balkan in Bezug auf die Freundschaft, das Bündnis und die wahre Gemeinschaft aller Balkanvölker ist.

Wenn dieses Büchlein der historischen Aufgabe der Sozialdemokratischen Parteien am Balkan als Zugabe diente, wären unsere bescheidenen Erwartungen bereits erfüllt.

D. T.

1. Januar 1914, Belgrad

 

I. Aus dem Leben der Albaner 

1. Ursprung und Verbreitung

 

Die Heimat der Albaner ist vorwiegend eine riesige Gebirgskette, die die frucht-baren Täler des alten Serbien und Makedoniens von der Adria trennt. Sie führt entlang der Meeresküste von Skadar (Shkodra) im Norden bis zu griechischen Siedlungen im Süden; dieser relativ lange Streifen entlang des Meeres ist nicht nur eng, sondern auch sumpfig, und es gibt Malaria. Die besten Lebensbedingungen bieten die teilweise erweiterten fruchtbaren Täler des Drin, Mati, Semani, Shkum-bini und Devolli. Aber die Gegend der Gebirgsketten mit kleineren Flusshäfen und Ebenen ist auch heute noch die echte Heimat der albanischen Stämme, die Be-ziehungen und Lebensgewohnheiten aus alter Vorzeit hartnäckig bewahren.

Über die Gebirgsketten gingen einst sehr wichtige Straßen der zivilisierten Welt, unter anderem im Süden die Via Egnatia: Durres, Elbasan, Struga, Ohrid, Bitola und weiter bis nach Saloniki und Konstantinopel, im Norden die Via di Zenta, die Zentastraße, die von Shkodra durch das Drintal nach Prizren und weiter in das Balkaninnere führte. Spuren von einst wichtiger wirtschaftlicher und kultureller Aktivität, die durch diese Straßen und ihre Abzweigungen erfolgte, sind uns bis heute in Form von größtenteils verfallenen Befestigungen und monumentalen Brücken erhalten geblieben. Es gibt davon sehr viele in Albanien. Allerdings sind die Straßen einsam geworden. Auf kleinen verschütteten Wegen, die teilweise kaum passierbar sind, kann man gerade noch Spuren erkennen. Abseits davon, links und rechts, herrscht ein solch primitives Leben, so als ob die einstigen kulturellen Einflüsse nur auf den Bergkämmen des Karst, den die Straßen sehr mühsam durchzogen, stattgefunden hätten. Hat uns nicht vor einigen Jahren ein Reisender in Nordalbanien in seinen Notizen erzählt, wie durch Pistolenschüsse "der Sehir kundtat, dass zum ersten Mal ein Europäer seinen Fuß auf den Gipfel des Kunorini setzte, und dass zum ersten Mal ein Europäer die Duranseen sah". Das klingt, als würden wir die freudige Stimme eines Forschers in Zentralafrika vernehmen!

Die Geschichte dieser Gegenden ist untrennbar mit der Geschichte der Adria verbunden. Solange die Adria, wie wir später sehen werden, ein großer Kanal war, durch den der ganze riesige Verkehr zwischen West und Ost führte, war auch die Adriaküste in wirtschaftlicher Hinsicht blühend. Die Spuren dieses regen wirtschaftlichen Handelslebens sind in den albanischen Siedlungen an der Meeres-küste sichtbar, wie auch in einzelnen alten Schriften. Als der Handelsverkehr vom Mittelmeer zum Atlantik wechselte, wir werden uns im dritten Kapitel näher damit befassen, wurde der gesamte Balkan davon betroffen, also auch Albanien. Mit der Zeit verlieren die Häfen der Adria ihre alte Bedeutung für den Welthandel mit Konstantinopel und dem Orient, somit führen auch die transversalen Wege durch Albanien, der Binnenverkehr auf der Halbinsel verlagert sich in Folge von vielen politischen und wirtschaftlichen Veränderungen immer mehr Richtung Saloniki im Süden und Mitteleuropa im Norden. In Richtung Saloniki wendet sich nun auch der Handel aller Städte am Drin, von Korca bis Pec, in denen noch die alten Genera-tionen von Händlern und Handwerkern leben, die damals ausschließlich mit Durres, Kruja und Shkodra handelten.

So wurde die natürliche Abgeschiedenheit der albanischen Heimat noch durch fast absolute kulturelle Isolation verstärkt. Die Türkei, ansonsten zu statisch für die Sicherung des Verkehrs, freute sich nun darüber, dass sie sich diese Stämme vom Hals geschafft hatte, überließ sie sich selbst, dem Raub und der gegenseitigen Ausrottung.

Die Stämme vermehrten sich trotz des Wütens der Blutrache; im Gebirge und in den Schluchten reichte das durch die alten Arbeitsweisen erzeugte Brot nicht aus. Die Albaner suchten einen Ausweg aus dieser Situation, und so wie es schon immer bei Völkerwanderungen war, zogen sie dorthin, wo es bessere Lebensbedingungen gab, in die fruchtbaren Täler des alten Serbien und Makedoniens. Dorthin führte sie aber auch die neue Handelsrichtung, denn die Städte diesseits des Drin sind heutzutage, versorgt mit Ware aus Skopje, Bitola und Saloniki, wichtige Markt-plätze, auch für albanische Stämme, die tief im Inneren Albaniens wohnen.

Über das Vordringen der Albaner nach Osten wurde bei uns viel geschrieben, denn es betraf die serbischen Siedlungen in den nordwestlichen Gegenden des osma-nischen Reiches. Das ist auch das Hauptmittel, dessen sich die chauvinistische Presse bedient, um beim serbischen Volk Hass gegen die "wilden" Albaner zu schüren. Diese versteckt wie eine gemeine Schlange die Greuel, die die serbische Armee den Albanern angetan hat. Wie viele Tränen sind schon geflossen, weil der historische Kosovo von den Albanern überschwemmt wurde! Sie gingen sogar weiter, umgürteten die alten serbischen Grenzen, man fand sie in den neu befreiten Bezirken, und sie wurden auch leider wieder aus ihnen verjagt, so dass sie den albanischen Gürtel an der Grenze verstärken konnten. Sie gelangten auch nach Makedonien, durchsetzten das Tetovotal und kamen bis zum Vardar. Vom Nordwesten her umgürteten sie Skopje.

Wir können hier nicht auf die Frage eingehen, inwieweit die dünnere Besiedlung durch das serbische Element in diesen Gegenden das unmittelbare Resultat des albanischen Ansturms bzw. inwieweit sie Folge der allgemein festgestellten Wanderung des serbischen Volkes von Süden nach Norden ist. Die Besiedlung der Sumadija [heutiges Zentralserbien] erfolgte ohne Zweifel erst nach dem Abzug aus den südwestlichen Gegenden. Historisch gesicherte Tatsache ist, dass sich die serbische Bevölkerung aus jenen Gegenden massenweise mit den österreichischen Truppen zurückzog, immer wenn diese im 17. und 18. Jh. gezwungen waren, ihr Vordringen in den Süden aufzugeben und sich zurückzuziehen. Wie gelangten schließlich die Serben in die alte Vojvodina, wer brachte sie dorthin, und aus welchen Gründen? Wenn man auf all diese Fragen und auf viele andere auch näher eingehen würde, dann wäre die Blutrache, die vom heutigen kapitalistischen Serbien gepredigt und geführt wird, ebenso wenig gerechtfertig, wie die, vor der Balkanicus und Dr. Vladan dermaßen graut. Wenn es schließlich stimmen sollte, dass das serbische Element ganz einfach vom albanischen zurückgedrängt wurde, wäre das denn das erste Mal in der Geschichte, dass der Ansturm einiger besser organisierten Stämme, die eventuell auch auf andere Art im Vorteil sind, ein Volk von seinem angestammten Gebiet verdrängt? Haben nicht auch die slawischen Völker die autochthone Bevölkerung dieser Länder mit Mitteln verdrängt, die in der Geschichte nicht gerade als fein bezeichnet werden? Und haben nicht schluss-endlich die Türken sie und andere Völker unterdrückt, und trotzdem spricht das offizielle Serbien heutzutage von ihren größten Lieblingen in den neuen Regionen?

Die Albaner breiteten sich nach Osten hin auf Kosten der Slawen aus, das ist Tatsache. Allerdings berechtigt das Hinterfragen der Gründe dieses Vordringens noch weniger die Rachehaltung des Staates ihnen gegenüber. Die Frage lautet vor allem, wie nahmen die Albaner die Gegenden ein: durch Verdrängung oder Ver-schmelzung? Auf welchem Gebiet waren sie stärker? Natürlich hatten sie für die Verschmelzung, für das Assimilieren des fremden Elementes, keine Prämissen, denn sie standen kulturell unter ihren Nachbarn, selbst in Bezug auf die Montenegriner. Prof. Cvijic fand auf dem Kosovo ganze 140 albanisierte Familien! Die Albaner ließen sich also an jenen Orten nieder, die andere freiwillig oder mit Gewalt verlassen hatten, die die frühere Bevölkerung aufgegeben hatte, oder von denen sie abgedrängt worden war. Das Verlassen ist zum großen Teil zweifelsohne auf die unerträgliche Nachbarschaft zu den primitiven, räuberischen, wilden albanischen Stämmen oder auch auf den groben Druck von ihrer Seite her zurück-zuführen. Man war sich seines Eigentums und seines Lebens nicht mehr sicher, wurde an der täglichen freien Arbeit gehindert und konnte nicht mehr über die Erzeugnisse seiner Arbeit verfügen, also mussten die Bewohner ihre heimischen Herde verlassen.

Andererseits sind die häufigen Migrationen eine Variante des Lebens in der Türkei, und das nicht nur in den Grenzgebieten zu den Albanern. Der Grund für so geläufige und häufige Umzüge ist die Produktionsweise der Begs. So wie die Viehzucht Grundlage für die große Mobilität und die Nomadenbräuche der Albaner war, so war auch das Feudalsystem Hauptursache für die Wanderungen.

Man war nicht durch Eigentum an den Boden gebunden, die stärkste Verbindung, die man in der Gesellschaft kennt. Deshalb führt uns das Hinterfragen dieses Problems zu der Überzeugung, dass der Druck der "wilden" Albaner in jeder Hinsicht ein nicht ausreichender Grund für die Interpretation des albanischen sukzessiven Beherrschens und des Vordringens nach Osten ist, sondern dass dieser Prozess, auf dem Wirtschaftssystem beruht, das bis zum heutigen Tage eine reale Lebensgrundlage in der Türkei ist.

Mögen auch andere Gründe dem nachgeholfen haben, wie z.B. das Gefühl von Unsicherheit und rohe Gewalt, so lagen sie dennoch im Herrschaftssystem der Türkei, in der allgemeinen Anarchie der Verwaltung und der Schutzlosigkeit der Rajahs (des armen – rechtlosen – Volkes). Das türkische Regime sah bei groben Gewalttaten der Albaner gegenüber den Christen weg, mähte sie jedoch un-barmherzig nieder, wenn sie durch ihr Verhalten die Regierungsinteressen des Regimes verletzten. Die Albaner sind nicht der einzige Stamm, mit dem das türkische Regime so umging, wie es ihm gerade genehm war. Ebenso erging es den Kurden, den Nachbarn der Armenier.

Durch das Vordringen des albanischen Elementes nach Osten vermischte es sich nicht nur mit den serbischen Besiedlungen, sondern es dominierte zur Gänze in einigen Gegenden, wie z.B. Metohija und Pec, wo bis vor ein paar Jahrhunderten das politische und religiöse Zentrum des serbischen Volkes unter den Türken war. Die schönsten mittelalterlichen serbischen Kulturdenkmäler befinden sich heute fast ausschließlich inmitten des albanischen Volkes. Diese Mischung von lebenden Menschen und alten Denkmälern, die bei der Grenzziehung Albaniens zu Serbien damals der Londoner Konferenz Kopfzerbrechen bereitete, entstand durch Zusammenschmelzen zweier kultureller und völkischer Ausbreitungsrichtungen: die erste, ältere, verursachte während der Handelsbeziehungen des mittelalterlichen serbischen Staates zur Adria das Vorstoßen des serbischen Volkes Richtung Küste, die leblosen Denkmäler dieses Vordringens sind im ganzen nördlichen Albanien zu finden; die zweite, neuere, entwickelte sich aus dem Zurückziehen des serbischen Volkes Richtung Nordosten, tiefer ins Landesinnere und näher der nördlichen Grenze. Hand in Hand mit diesem Rückzug rückte das albanische Element vor.

In der ersten Periode gewann die politische und kulturelle Überlegenheit der Serben, in der zweiten Periode war die kulturelle Rückständigkeit und Isolation der Albaner, die die Stammesordnung vollständig erhalten hatte, überlegen. Die Türkei unternahm nichts, um die Albaner aus ihrer Isolation herauzuführen, um sie durch kulturelle Maßnahmen in ein gemeinsames Miteinander einzugliedern, sondern schuf eigentlich durch ihr Herrschaftssystem die Bedingungen zur Konservierung des albanischen Primitivismus und bremste in jeder Hinsicht jegliche Entwicklung. Das gehört jetzt, wo es kein türkisches Regime mehr gibt, um so mehr betont, als die Herrschenden der Balkanländer in ihrer Funktion als Erben der türkischen Herrschaft schon den nichtwissenschaftlichen Weg eingeschlagen haben: Dass sich durch Veränderungen der Institutionen und der Lebensbedingungen auch die Menschen ändern, wäre der gewohnte Weg; die barbarische Parole, derer sich nicht einmal die Türkei in solchem Maße bedient hatte, lautet, dass Hainbuchen und Galgen bessere Lehrer sind als neue Institutionen.

 

2. Stammesordnung und Blutrache

Das Vordringen der Albaner nach Osten ist von großer historischer Bedeutung. Es bestimmte das Schicksal des serbischen Volkes in der gesamten Region an der Südgrenze des ehemaligen Serbien. Es schuf den bekannten albanischen Gürtel, der höchstwahrscheinlich einer der Gründe ist, warum unser Volksaufstand von 1804 nicht weiter in südlicher Richtung verlief, auf jeden Fall verhinderte er die Einflussnahme der späteren Entwicklungen im freien Serbien auf die unterdrückten slawischen Massen in der Türkei.

Dieses albanische Vordringen nach Osten lässt uns an der Stabilität der Stammesordnung ihrer Gesellschaft zweifeln. Es ist nämlich ein Beweis dafür, dass die Stammesordnung bei den Albanern ausgedient und dass sie ihre Mitglieder nicht mehr in der Hand hat, denn sie ist nicht mehr in der Lage, ihre Lebens-bedürfnisse zu stillen.

Im nördlichen Albanien spielt sich das soziale Leben der Albaner noch immer in den Stammesgrenzen ab. Die Zahl der Stämme beträgt – dem Franziskanermönch Mihacevic nach – 27. Tatsache ist, dass sich durch Bevölkerungsmigration in diesen Bergen die Stämme territorial zerstreut haben, aber die Blutsverwandt-schaft ist auch danach noch zu erkennen. Krasnic' gibt es z.B. in der Gegend um Prizren, im Kosovo, in Ostrozub, in der Nähe von Cakovica, Pec und Beran, in Malesije. Obwohl sich die Krasnic' in all diesen Gegenden an ihre Stammesnamen und Verwandtschaft halten, obwohl sich all die Verstreuten zu einem Stamm bekennen, auf albanisch kusherini, ist es ganz natürlich, dass das Entfernen dieser Leute von der ursprünglichen Stammesbasis ihr Zugehörigkeitsgefühl schwächt, Stammestraditionen und alte Lebensgewohnheiten löscht. Falls die Zuwanderer nun in Gebiete kommen, wo andere kulturelle Einflüsse stark sind oder Landesgesetze gelten, wie es im Vardartal der Fall ist, treten sehr rasch an Stelle von Stammes-gewohnheiten, Blutrache etc. das allgemeine Gesetz und die neue Lebensweise. Wenn ein Fremder durch diese Regionen reist, wird er aufgrund der Arbeitsweisen, des Bodenbaus und der Haushaltsführung nur schwer zwischen den albanischen Zuwanderern und den slawischen Eingeborenen unterscheiden können.

Bei Stämmen, die auf ihrem angestammten Gebiet verblieben sind, sei es nun gänzlich oder zumindest vorwiegend, stellt die Stammesordnung einen lebendigen gesellschaftlichen Machtfaktor dar. Bei bestimmten Stämmen findet man auch noch heute Stammeshäupter, die mit Hilfe einiger älterer und angesehener Mitglieder die allgemeinen Angelegenheiten des Stammes erledigen. Die Stammesordnung in Bezug auf Gesetzgebung und -ausführung gibt es immer noch, sei es in Form der plecnije (eines Altenrats), einer Gruppe von 12 Leuten, die von Fall zu Fall gewählt werden, um in wichtigen Streitfällen zu entscheiden; sei es in Form eines Schieds-gerichtes guter Menschen oder auserwählter Richter. Für die Wahl dieser Stammesfunktionäre, wie auch für andere Stammesangelegenheiten, tritt eine Ratsversammlung zusammen, deren Entscheidungen absolut bindend sind. Als Hauptcharakteristikum des Stammeslebens bei den Albanern gilt noch immer die Blutrache, deren zivilisierte Form, nach Meinung eines Engländers, unsere Todes-strafe ist:

"Der einzelne verließ sich für seine Sicherheit auf den Schutz der Gens und konnte es; wer ihn verletzte, verletzte die ganze Gens. Hieraus, aus den Bluts-banden der Gens, entsprang die Verpflichtung zur Blutrache, die von den Irokesen unbedingt anerkannt wurde. Erschlug ein Gentilfremder einen Gentilgenossen, so war die ganze Gens des Getöteten zur Blutrache verpflichtet. Zuerst versuchte man Vermittlung; die Gens des Töters hielt Rat und machte dem Rat des Getöteten Beilegungsanträge, meist Ausdrücke des Bedauerns und bedeutende Geschenke anbietend. Wurden diese angenommen, war die Sache erledigt. Im anderen Fall ernannte die verletzte Gens einen oder mehrere Rächer, die den Töter zu verfolgen und zu erschlagen verpflichtet waren."

Wie man auch über die jetzige Autorität dieser Stammesinstitutionen gegenüber den Stammesmitgliedern und über die jetzige Praxisnähe der Stammestraditionen denken mag, sicher ist, dass die Stämme noch heute als bestimmte selbstständige politische Körperschaften einander gegenübertreten. Viele natürliche und gesell-schaftliche Gegebenheiten, der Landschaftscharakter, die Besiedlung, Boden-mangel, Wanderungen etc. bewirkten, dass sich diese Gemeinschaften von Bluts-verwandtschaft auf verschiedenste Art und Weise mit den regionalen Gemein-schaften verbanden, die durch wichtige lokale Interessen gebunden waren, mit Gemeinschaften von Menschen verschiedener Stämme, die in einem Gebiet lebten. Aber über die Bande und Interessen hinaus gilt noch immer: Was außerhalb des Stammes liegt, ist Fremdes. In diesem Rahmen finden die Albaner den besten Schutz, denn noch immer setzt sich der ganze Stamm für jeden Einzelnen ein.

Auch wenn ein Stamm im nördlichen Albanien den anderen gegenüber als eigener "Staat" auftritt, der seine Grenzen wie Heiligtümer wahren will, und wenn auch die Blutrache noch immer präsent ist, muß man eingestehen, dass die wirtschaftliche Grundlage für das Stammesleben bei den Albanern schon längst dahinschwindet.

Der Boden ist vor allem nicht mehr gemeinsames Eigentum. Das Land wurde verteilt, aber dieser Prozess ist noch nicht abgeschlossen. Gemeineigentum sind nur noch die Wälder, und das nicht immer, Weideland, Wasser etc.; das restliche bestellbare Land ist Genossenschaftsbesitz (eine Art von Großfamilienbesitz), das in Nordalbanien gut entwickelt ist. Marko Miljanov erzählte uns über eine solche Genossenschaft, über die "erweiterte Familie" des Jaka Matin aus Miridita, die "mehr als 100 Hausgenossen hat, unter ihnen ungefähr 60 bewaffnete Soldaten". Fünf, zehn, fünfzehn und zwanzig Erwachsene in einem Haushalt sind bei den Albanern keine Seltenheit.

Trotz der Größe der Genossenschaften verlor die Stammesordnung aufgrund der Landverteilung die Grundlage innerer Einheit und Harmonie. Einige Familien waren in der Lage, auf Kosten der anderen, ein besseres und größeres Stück des Gens-Landes zu ergattern. Und weil sich, das ist für den Zerfall der Stammesordnung besonders wichtig, die Geldwirtschaft mehr oder weniger überall durchgesetzt hatte, konnten die stärkeren und reicheren Genossenschaften ihren Reichtum durch Zukauf, Raub, Ausbeutung, Handel und alle anderen Mittel, die der Geld- und Warenwirtschaft alle Türen öffnen, vergrößern.

Auf die Art und Weise, wie durch den Übergang des Bodens von Stammesbesitz in Genossenschaftsbesitz und die Entwicklung der Geldwirtschaft die echte Grundlage der inneren Stammeseinheit entzogen wurde, so bürdeten Bodenmangel und Be-engtheit im nordalbanischen Karst den Stämmen ständigen Kampf um Land und Stammesterritorien auf. In ihrer Blütezeit setzte die Stammesorganisation unter-entwickelte Produktion und dünne Besiedlung in weiten Gebieten voraus. Solange dem Stamm genügend freies Land zur Verfügung steht, das dann infolge von Vermehrung der Mitglieder besetzt und bebaut wird, sind Streit und Kampf um Boden überflüssig, wird der Stamm wegen Bodenmangels nicht in ständige Kämpfe mit den benachbarten Stämmen verwickelt und ist der private Genossenschafts-besitz für den Zusammenhalt der Stammesorganisation nicht so ein Gefahrenpunkt. Auch in dieser Hinsicht verlor die Stammesordnung der Albaner ihre reale Basis.

Wie ist das zu erklären? Die Stammesordnung verlor ihre Basis, und trotzdem gibt es sie noch. Wie ist das möglich?

Solche Erscheinungen sind in der Geschichte der menschlichen Gesellschaft nichts Ungewöhnliches. Die soziale Organisation, Formen des Gemeinschaftslebens gehen Hand in Hand mit wirtschaftlichen Veränderungen; sie sind Wirkung, auf keinen Fall Ursache. Wie und wie schnell sich der Anpassungsprozess der Gesellschafts-formen den Arbeits- und Produktionsformen anpasst, hängt von vielen anderen Geschichtsfaktoren ab.

In dieser Hinsicht ist für die albanischen Stämme vor allem charakteristisch:

Erstens: Ihre jetzige Heimat ist das karstige, gebirgige und unfruchtbare Gebiet Nordalbaniens; zweitens ist dieses Gebiet wegen seiner natürlichen Abgeschiedenheit und der ungünstigen Verkehrslage das wahrscheinlich am meisten isolierte Fleckchen Erde in Europa. Ja, auf diesem Fleckchen Erde bewährten und vermehrten sich die Stämme, beengten sich gegenseitig, spürten die starke Beengtheit um so mehr, als der beste Boden in den Stammesgrenzen von Einzelnen – herausragenden Häuptern, einigen Begs und reichen Familien – an sich gerissen wurde. Indessen war die Umgebung dieser karstigen Heimat sowohl in Richtung Meer als auch vom Süden her und von den fruchtbaren Feldern Makedoniens und Altserbiens im Osten von großen Tschiftliks absorbiert, deren Grenzen die mächtigen Begs und Obrigkeiten durch ihre Autorität sicherten. In den Stammesgrenzen hatte der Einzelne also nicht mehr jene Existenzsicherung wie einst, und jeder Versuche ihrerseits, durch Vergrößerung des Stammeslandes ihr Überleben zu sichern, brachte sie in harten Konflikt mit benachbarten Stämmen und der staatlichen Obrigkeit. Das einzige Ergebnis eines jeden derartigen Versuches war eine größere Zahl an Fehden und Feindschaften.

Infolge der Beengtheit, die der eines Vogelkäfigs nahe kommt, entstand eine neue Lebensform in und zwischen den Stämmen: vor allem absolutes Misstrauen jedem gegenüber. Alle Reisenden in Albanien berichten darüber, mit welcher Feind-seligkeit die Bergbewohner die Integrität ihres Territoriums bewachen und mit wieviel Misstrauen sie jedem Fremden begegnen, weil sie fürchten, dass man vielleicht mit der Absicht kam, ihnen etwas von ihren Bergen wegzunehmen! Es tobte ein Kampf um Grenzen und Weideland. Mit allen Nachbarn war man bis aufs Blut verfeindet. Weil man von allen Seiten her eingeengt war, war Raub das einzige Heil der Bergbewohner. Raub wurde zu ihrer wichtigsten Einnahmsquelle, Hinterhalte, Erpressungen von Reisenden und Händlern, Viehraub, gefolgt von Morden und Morden für Morde, gut organisierte Raubzüge an die Küste oder in die fruchtbaren, östlichen Gegenden wurden zur ständigen Beschäftigung. All das erinnert uns an die Lage der griechischen Stämme zur Zeit des Untergangs der Stammesordnung, zu der Engels meint: "…der alte Krieg von Stamm zu Stamm bereits ausartend in systematische Räuberei zu Land und zur See, um Vieh, Sklaven, Schätze zu erobern, in regelrechte Erwerbsquelle; kurz, Reichtum gepriesen und geachtet als höchstes Gut und die alten Gentilordnungen gemiss-braucht, um den gewaltsamen Raub von Reichtümern zu rechtfertigen."

Wie erhält sich die Stammesordnung heute aufrecht? Seit Privateigentum und Warenwirtschaft überwiegen, sind Stammesmitglieder gezwungen, auf ihr Wohl-ergehen im Rahmen ihrer privaten Haushalte zu schauen, das gemeinsame Stammesinteresse ist eingeengt, die innere Stammeseinheit zerstört. Von diesem Augenblick an treten die Stämme als Ganzes nur gegenüber den anderen Stämmen und Nachbarn auf, mit denen sie in ständigen Feindschaften und Auseinander-setzungen leben. Die Stammesordnung erhält sich nicht mehr aufgrund von Stammeseinheit aufrecht, sondern aufgrund von immerwährender Gefahr von außen und ununterbrochenen Spannungsverhältnissen und Kämpfen mit allen Seiten – Kämpfen, bei denen es wirklich um Leben oder Tod geht.

Aber hinter dieser Stammesgemeinschaft und der gegenwärtigen Blutrache ver-stecken sich ganz andere Lebensbedingungen. Wenn auch die Gemeinschaft zur Blütezeit des Stammeslebens allen Mitgliedern eine gesicherte und gleiche Existenz bot, so genießt nun jedes Gemeinschaftsmitglied, je nachdem, wie viel Eigentum es besitzt, in diesem Maße auch Sicherheiten und Annehmlichkeiten des Lebens. Obgleich der Kampf mit anderen Stämmen früher gleichermaßen im Interesse aller Mitglieder war, geschieht er heute vorwiegend im Interesse jener, deren Überleben im Stamm gesichert ist, die Herden zum Weiden und Boden zum Bebauen haben. Obgleich der Kampf früher zum Zwecke des Schutzes und der Immunität des Stammesterritoriums geführt wurde, erfolgt er heutzutage wegen Bodenmangels. Obschon die Blutrache einst Mittel zum Schutze des gemeinsamen Stammes-interesses war, ist sie heute Folge ununterbrochener Reibereien untereinander, die sich aus der Beengtheit und den schlechten Lebensbedingungen hervortun, Folge des fehlenden gemeinsamen Stammesinteresses, Folge zweier großer Übel: der Anarchie und Armut. Ein Volkslied sagt: "Travu iju, pa se s nama biju." Übertragen heisst das in etwa: "Heute Freund, morgen Feind." Daher handelt es sich bei der Blutrache in vielem nicht mehr um eine öffentliche Stammesangelegenheit, sondern um die gefährlichste anarchische Form vom Kampf jeder gegen jeden. Es gibt Menschen, die, weil sie Blut schulden, ihr ganzes Leben in einem Turm verbringen, übertrieben geschmückt mit Schießscharten, und es gibt auch Familien, in denen es absolut keine erwachsenen Männer gibt.

Und die Türkei bewachte die armselige Situation dieser Bergbewohner! Um die fruchtbaren Gegenden an der Küste und im Osten vor deren Raubzügen zu schützen, stellte sie an den Ausgängen der Schluchten Soldaten auf, verhinderte jedes Passieren und verschloss ihnen die Wege zu den Basaren. Das Gesamtbild ist nun somit folgendes: Jeder Einzelne ist wegen der Blutrache in seinem Turm, jeder Stamm wegen Feindschaft mit benachbarten Stämmen gefangen, und ganz Nordalbanien ist ein weites Gefängnis, an dessen Toren türkische Wachen stehen.

 

3. Wirtschaftsverhältnisse

Die Albaner sind ein reines Bauernvolk, mit Viehzucht als weit überwiegendem Beschäftigungszweig. Lebensmittel bekommen sie durch Ackerbau, und vor allem durch Viehzucht.

Sowohl in Hinsicht auf Produktivität als auch in Hinsicht auf Perfektion von Arbeitsgerät und -weise gibt es große Unterschiede zwischen den unterworfenen nordalbanischen Stämmen und den fruchtbareren Gegenden, die die Albaner kolonisiert haben, auf der einen Seite und andererseits jenen im Süden, an der Küste und im unteren Einzugsgebiete der Flüsse Drin, Semani, Devolli, Shkumbini und Mati. Diese Grenze deckt sich vorwiegend mit der Grenze des Tschiftlik-Systems. Tschiftliks drücken all diese Regionen, die ausreichend natürliche Be-dingungen für eine rentable Landwirtschaft besitzen, nieder. Sie erstrecken sich bis zu den Ausgängen der nordalbanischen Schluchten, über diese Grenzen hinweg sind sie äußerst selten, und dort wo es sie gibt, sind sie für gewöhnlich Eigentum von Stammesherrschern, reichen Leuten oder der katholischen Kirche und den Metropoliten.

Unter dem Zwang von Stammestradition und der unerträglichen Last von Stammes-krieg und Blutrache hielt man sich in der Landwirtschaft an alte, gewohnte Formen und Weisen, die auf der Stufe höchster Primitivität stehen. Unterwegs in Albanien, sah ich oft noch den Holzpflug, der nur an der Oberfläche pflügt, man kann ganze Landstriche durchqueren, ohne eine andere Saat als Mais zu sehen. Von der Bedeutung des Fruchtwechsels weiß man hierzulande anscheinend nichts. Wenn man sie fragt, warum sie keine anderen Feldfrüchte als Mais säen, und ob sie gedeihen würden, antwortet man uns, sie hätten es halt so gelernt!

Der größte Reichtum der Leute war einst das Vieh. Das Vieh ist aber von schlechter Rasse. Ziegen sind anscheinend das meistverbreitete Haustier dieser Bergbewohner. Das kleine, haarige, gelbe, wilde Rind, das wir in den albanischen Bergen in ganzen Horden sahen, sieht aus wie der erste Nachfahre des aus-gestorbenen Auerochsen, des Urahnen unseres Hausrindes! Wegen der Bodenverteilung, des Sich-Durchsetzens von Geldwirtschaft und allgemeiner Unsicherheit schwindet die Zahl des Viehs von Tag zu Tag. Das Vieh wurde zum wichtigsten Handelsobjekt. Damit erscheint der Albaner am Marktplatz. Durch den Verkauf von Vieh kommt er zu Geld, das er für den Kauf von Früchten, für Interessenszahlungen und Blutgeld benötigt. Da der nordalbanische Karst nicht einmal eine ausreichende Menge an Feldfrüchten für die Ernährung bietet, ist Geld fürs Überleben unbedingt erforderlich, und die Bergbewohner wehrten sich mit Vieh und Raubzügen gegen den Hungertod.

Neben der öffentlichen Unsicherheit und der allgemeinen Verarmung versetzte das Sperren der Zugänge zur Küste und zu ebeneren, wärmeren Gebieten der Viehzucht den entscheidenden Schlag. Indem es den ganzen guten Boden niederdrückte, überließ das System der Begs es den Bergbewohnern, sich von Stamm zu Stamm im Kampf um jede Schlucht, jeden Berg, jeden Karst niederzumetzeln, selbst wenn er nicht mehr als hundert Groschen wert sein sollte. Es versperrte ihnen auch die Wege der Transhumanz. Da das Vieh in diesen Regionen – reich an Weiden, aber arm an Wiesen – im Winter von den Bergen hinunter zu den Küsten und wärmeren Gebieten getrieben wird, wie es auch die Walachen im Pindos in Griechenland und Makedonien tun, zerstörte der politische und wirtschaftliche Freiheitsentzug dieser Stämme in ihren Karsten und Bergen die Viehwirtschaft als Hauptquelle materiellen Lebens.

Der große tägliche Geldbedarf einerseits und das Versiegen der Geldquellen andererseits bewirkten, dass sich ein beispiellos schreckliches Ausbeutersystem entwickelte. Den Notizen vieler Reisender zufolge beträgt die Ausbeutung zwischen 40 und 60 Prozent. Die Städte wurden zu Zentren des Geldhandels; sie belasteten und unterwarfen die Umgebung mit Schulden, sodass die armseligen Teufel ständig die Früchte ihrer Arbeit in die Städte tragen, von dort aber mit leeren Händen zurückkehren.

Was für eine Armut in diesen "Nestern der Freiheit" herrschte, beschrieb ihr bester Kenner, Marko Miljanov, sehr virtuos. Über das Leben der Kuci, eines monte-negrinischen Stammes, der eng verwandt ist mit den albanischen und auf der absolut gleichen Kulturstufe steht, schreibt Marko Miljanov:

"All ihren Besitz und ihre Häuser in Nahia und Zeta rissen die Türken an sich. Sie schlossen ihre Basare. Alle führten Krieg mit den Kuci, Moslems und Christen. So verschonten auch die Kuci niemanden. Sie töteten, plünderten, raubten und brandschatzten, so wie es auch ihnen von allen Seiten geschah. Es blieb ihnen kein Spielraum mehr."

"So zählten sie im Winter, wenn die größte Hungersnot herrschte, wenn es kein Grünfutter gab, die Krautköpfe in den Gebäuden, um zu berechnen, ob sie damit über den Winter kommen. Falls jemand mit Kraut allein nicht auskam, sammelte er Wurzeln verschiedenster Gräser und Kräuter (Safran, Schneeglöckchen) oder Ahornrinde. Aus Ahornrinde machten sie am häufigsten Brot. Buchenrinde war nicht geeignet, aber sie kratzten den Pflanzensaft heraus und tranken ihn."

Es ist vollkommen verständlich, dass die hungrigen Kuci den Rest der Welt nicht in Ruhe seine Güter genießen ließen. Die Kuci hingen buchstäblich vom Raub ab, deshalb hassten sie auch den Frieden und den Normalzustand, denn dann versiegte ihre Lebensquelle. Miljanov schreibt darüber:

"Von Hungersnot betroffen, wünschten sich die Kuci geradezu den Kampf; falls es keinen Streit gab, suchten sie sich einen Provokateur, um einen Grund zum Plündern zu haben… Je mehr sie den anderen Übles taten, desto mehr fiel es wieder auf sie zurück; sie wurden von ihren Feinden bedrängt, in ihren Bergen eingeengt, so dass sie nirgends hin konnten. Also verbrachten sie den Sommer in Zijevo und Labedinac, wo die Menschen ihre Nöte vergaßen, sahen aber zu, wie ihr Vieh Hunger und Durst litt."

Der Armut dieser Stämme entspricht die entsetzliche Unterentwicklung ihrer kulturellen Bedürfnisse, der allgemein niedrige Lebensstandard. Während Marko Miljanov bei den Albanern lebte, war er nicht so sehr über die Armut, in der dieses Volk lebte, überrascht, mehr darüber, mit welcher Leichtigkeit sie sie ertrugen. Weil der stolze Herzog, vielleicht der letzte Vertreter der mittelalterlichen Ritter, nicht durchschaute, dass sich die Armut nicht nur aufgrund der Unterentwicklung ihrer Bedürfnisse an Seele und Haltung dieser Menschen erkennen ließ, nannte er diese Art von Haltung "südlicher Pauperismus". Wenn du einen armen Hirten triffst, "eine Mischung aus Menschenkind und Teufel", erzählt Miljanov, wunderst du dich, "wie sehr er sich selbst gefällt, so sehr, dass er weder mit dem Kaiser tauschen möchte, noch ihm den Weg freimachen würden, wenn er ihn träfe."

Der Staat, der von diesen seinen Sklaven Blutsteuer verlangte, konnte ja keine andere Antwort erwarten als die, die er ständig bekam. Die Frauen sagten zu ihren Männern: "Sterbt, unterwerft euch nicht, oder gebt uns Frauen die Gewehre!" Und als die Jungtürken versuchten, mit anderen Mitteln die Bergbewohner zu beugen, damit diese ihren steuerlichen und militärischen Pflichten nachkamen, wurde in der Umgebung von Djakovica zur Zeit der albanischen Bewegung 1908 folgendes Volkslied gesungen:

Seid gnädig, die Not ist groß,
sucht das albanische Leid zu lindern!
Der Reichste besitzt nur ein geringfügig’ Land,
vier Schafe, vier Ziege hält der Reiche.
Der Fels gibt nicht genug Nahrung ab,
ein Huhn sieben Häuser versorgen muß.
Im Schneesturm trägt pausenlos
der Unbekleidete sein Bürdenlos;
Das Gewehr bei sich, sonst nur Salz und Brot,
stets aber lauert der Tod!

Im restlichen Albanien sind die Wirtschaftsbedingungen ganz anders. In diesen Gegenden genießen die Albaner keine Waldfreiheit, und sie tragen auch keine Gewehre wie die Bergbewohner Nordalbaniens, aber sie leiden auch nicht ständige Hungersnot. Als Leibeigene auf Gütern der Begs haben sie eine dauerhafte Arbeit, und im Kontakt zu den slawischen Nachbarn lernten sie die Fremdarbeit. Eine große Zahl an Albanern erledigt die schweren Arbeiten, meist Trage- und Säge-arbeiten, in den Städten aller Balkanstaaten, aus einigen Gegenden, wie z. B. Prizren, wandern sie massenweise nach Amerika aus. All das führte dazu, dass man zwischen den Albanern und ihren slawischen und anderen Nachbarn keine Unter-schiede feststellen kann, weder in Hinsicht auf Ackerbaumethoden, noch in Hinsicht auf das kulturelle Leben.

In wirtschaftlicher Hinsicht unterscheiden sich diese Regionen, im Gegensatz zu Nordalbanien, vor allem durch das Beg-System. Diese Erbsünde der Türken, so scheint mir, traf gerade Albanien am härtesten. Auf dem Wege durch Nordalbanien sieht man auf der einen Seite Häuser im Fels, gleichsam wie Schwalbennester, und Menschen, die im Karst und in steilen Höhen leben, wo selbst Bergziegen abstürzen, und auf der anderen Seite, in den fruchtbaren Tälern des Semani, Devolli und Shkumbini, ganze Ebenen, umgeben von Dornen, die schwerer zu passieren sind, ähnlich feindlichen Schützenlinien, in denen Wildschweine und Raubtiere leben. Die Besiedlung ist sehr dünn. Die weit verstreuten Dörfer setzen sich aus zehn bis fünfzehn Häusern der Leibeigenen zusammen, die den ersten Gegensatz zu den stolzen Felshäusern der souveränen Gebiete bilden.

Als ich mir im Dorf Ciragi, zwischen Devolli und Shkumbini, die Lebens-bedingungen der Menschen ansah, fand ich mich in wahrhaften Fledermausnestern wieder: Die Mauern waren Dornen, das Gebirge oberhalb, keine Fenster; untertags mußte ich eine Kerze anzünden, um zu sehen, wo ich war; von Möbeln oder Ord-nung keine Spur. Im Gegensatz zu diesen Löchern sind die Häuser der Leibeigenen in Makedonien, in denen sich sonst die ganze Schwere und Unerträglichkeit des Begsystems widerspiegeln, richtige Paläste. Das Aussehen der Menschen entspricht vollkommen dem Aussehen der Behausungen. Ihrer physischen Missgestalt und dem stumpfen, blöden Gesichtsausdruck nach, sind sie absolute Gegensätze zu den nördlichen Bergbewohnern, mit stolzer Haltung und scharfen Gesichtskonturen. In ganz Makedonien bekam ich kein solch schreckliches Bild darüber, bis zu welchem Grad das Beg-System seine Sklaven zugrunde richten kann.

Allem Anschein nach sind diese Gebiete wahre Eldorados der Ausbeutung durch die Begs. Mehrere Feudalherren besitzen über ein Dutzend Dörfer, der größte Feudalherr der Welt, Abdul Hamid, besaß gerade in dieser Gegend mehr als hunderte eigene Dörfer. Die Grenzen ihrer Feudalbesitze erweitern sie nach Belieben, denn sie stoßen auf keinerlei Widerstand, Arbeitskräfte haben sie auch reichlich, weil die Bergbewohner infolge von Blutrache und Hungersnot aus den Bergen fliehen. Alles, was ohne irgendeine Verbesserung bebaut werden kann, lassen sie bebauen, und in den Ebenen weiden unter Dornen ihre Herden, obwohl man sie mit ein wenig Mühe in regelrechte Kornkammern verwandeln könnte – ein echtes Bild der Zerstörung, hervorgerufen durch den Feudalismus der Begs.

 

4. Charakterzüge und geistiges Leben

Die Albaner sind zweifellos das einzige Volk Europas, das in einer Stammes-ordnung lebt – Familie ist die erste Form menschlichen Zusammenlebens überhaupt, Stämme die zweite. Wer die Dinge historisch betrachtet, dem reicht diese Tatsache allein, und er weiß zweifellos, dass er es hier mit einem Volk zu tun hat, welches von allen Balkanvölkern auf der niedrigsten Entwicklungsstufe steht, welches sich von den Kulturvölkern dadurch unterscheidet, dass es – in der Entwicklung und den großen gesellschaftlichen Umbrüchen nach – Jahrhunderte hintennach ist.

Aber Primitivität und Unterentwicklung sind keine Maßstäbe für die Fähigkeit des kulturellen Lebens und der Entwicklung im allgemeinen, wie man es gerne in der politischen Literatur der imperialistischen Bourgeoisie annimmt. Denn, wenn auch einige Völker, gesegnet von günstigen historischen Bedingungen, die sich schneller entwickelten als andere, an der Spitze der zivilisierten Welt stehen, während andere im primitiven Zustand verblieben, gibt das alles den Befürwortern der kapitali-stischen Unterdrückungspolitik noch lange nicht das Recht, die rückständigen, schwachen, widerstandslosen Völker für eine schwächere, unfähigere, inferiore Rasse zu halten, ihnen jede kulturelle Fähigkeit abzusprechen und sie zu ständig Unmündigen zu erklären, die ihrer "kulturellen" Vormundschaft bedürften. Diese Ausformungen einer reaktionären Verteidigung der Unterdrückungspolitik lassen die Tatsache vergessen, dass alle Kulturvölker die Form der Stammes- und einer primitiven Gesellschaftsordnung durchlaufen haben. Allerdings sollten gerade die Vertreter der Bourgeoisie der Balkanvölker nicht außer Acht lassen, dass bei ihnen selbst die sicheren Spuren jüngster Stammesordnung noch zu erkennen sind. Dass die montenegrinischen Stämme nicht fortschrittlicher sind als die albanischen, erkannte und schilderte der beste Kenner beider, Marko Miljanov. Und gleichzeitig riet er den Serben: "Ihr sollt wissen, dass es nicht so arg ist mit dem Albaner, wie euch scheint, denn er und ihr seid euch nur allzu nah."

Trotzdem schrieben Balkanicus und Dr. Vladan jeweils ein ganzes Buch mit der Absicht, das arme albanische Volk zu vernichten und ihr Unvermögen auf kultureller und nationaler Ebene zu beweisen. Das Erscheinen solcher Bücher verdient mehr Aufmerksamkeit als die Werke selbst. In den kapitalistischen Ländern ist diese Literatur genauso alt wie die kapitalistische Unterdrückungs-politik. Als die Interessen der kapitalistischen Klassen den europäischen Staaten befahlen, eine Politik der kolonialen Unterdrückung zu starten, wurde der Buch-markt von Werken wie den Schriften eines Balkanicus oder Dr. Vladan über-schwemmt. In Österreich-Ungarn erschien diese Literatur vermehrt nach der Okkupation Bosnien-Herzegowinas, und sie wurde von der gleichen Argumentation begleitet, die heute Balkanicus und Dr. Vladan bei uns einführen. Diese Argumentation ist in Wahrheit ein dem Entwicklungsgesetz anmaßender Spott, an dessen Macht die Wissenschaft der Bourgeoisie bedingungslos glaubte und auf dem sie ihren Kampf mit dem Adel und der Kirche begründete. Aber ist nicht die Politik der kolonialen Unterdrückung der kapitalistischen Bourgeoisie eine rücksichtslose Zerstörung der nationalen Ideale von Unabhängigkeit, Befreiung und Vereinigung? Das Erscheinen solcher Schriften stellt eine ganze Ära in unserer Literatur dar, ähnlich wie die Angriffe der serbischen Armee auf Albanien eine Ära in der Politik Serbiens darstellen.

Die Bourgeoisie lüftet dem serbischen Volk den Schleier, einem unterdrückten Volk, das einzig an die Macht nationalen Fortschrittes glaubt. Die Standpunkte des Balkanicus und Dr. Vladans entsprechen der überwundenen und längst ab-geworfenen Kastenordnung, in der der Adel und die Geistlichkeit einst ihre Privilegien verteidigten, indem sie nachzuweisen versuchten, dass sie dazu bestimmt seien, das Schicksal des Volkes zu lenken, weil ja der geistige Fortschritt von ihnen ausginge. Im Kampf gegen Privilegien wusste die Bourgeoisie in früheren Zeiten zu antworten: Adel und Geistlichkeit seien geistig weiter entwickelt, nicht aufgrund ihrer natürlichen Begabung oder Gottessegnung, sondern aufgrund der besseren Bedingungen für geistige Arbeit, und diese Bedingungen sollte man auch dem übrigen Volk ermöglichen, damit es sich geistig weiterentwickle. Heute spricht sie, die Bourgeoisie, dem Proletariat die gleichen politischen Rechte ab, und das aufgrund der gleichen, längst aufgegebenen "Theorien", die seinerzeit der Adel ihr gegenüber anwandte, wogegen sie sich heftig wehrte.

Wenn die Bourgeoisie sich ihren Brüdern gegenüber – Menschen mit der gleichen nationalen Zugehörigkeit, aus den Arbeiterklassen und proletarischen Volksmassen – so verhält, was kann man dann von ihren Vertretern erwarten, wenn sie über die Albaner reden? Mit der Absicht zu beweisen, dass dieses Volk als Rasse keinen Sinn für ein kulturelles und selbständiges Leben hat, stellt sie all das, was aus der Primitivität dieses Volkes hervorgeht, nicht als Ausdruck einer historischen Entwicklungsstufe dar, auf der es sich befindet, und auf der sich alle anderen Völker auch einmal befunden haben, sondern als Ausdruck seiner rassischen Unfähigkeit zum kulturellen Fortschritt überhaupt.

Selbst eine oberflächliche, geschichtliche Betrachtung der Menschheitsentwicklung zeigt, dass die Blutrache eine Form von öffentlicher Strafe ist, dass sie als solche bei allen Völkern auf der Stufe der Stammesordnung vorherrschte, ja selbst lange Zeit danach, und trotzdem wurde sie als Beweis einer angeborenen Blutrünstigkeit der Albaner gegen sie verwendet. Wenn Dr. Vladan genau das gegen sie hervorhebt, indem er von "Menschen mit Schwänzen" spricht, hätte da nicht jeder Albaner das Recht, ihn daran zu erinnern, dass bis vor kurzem die Dalmatinerin das blutige Gewand ihres Mannes dem Sohne zeigte, und ihn anflehte, den Vater zu rächen?

Mit derselben Absicht durchblättert auch Balkanicus sämtliche Konversations-lexika, um ein möglichst hässliches Urteil über den Charakter der Albaner zu fällen. Verschiedenste Autoren und Reisende beschreiben den Albaner einmal als Menschen, der für sein Wort den Kopf hinhält, ein anderes Mal als Mörder, der andere mit dem Gewehr tötet, das sich diese nur anschauen wollten. Aus dem Leben der Shaljani, eines unberührten Bergstammes, berichtet Miljanov über zwei charakteristische Fälle. Einen Shaljani, der auf dem Weg zu seiner Hinrichtung war, hielt der Wesir an, als gerade ein zähnefletschender Zigeuner hinter ihm den Krummsäbel zog, und fragte ihn: "Sag' Held, warst du schon einmal in solch einer Notlage?" Der Albaner antwortete: "Zweimal waren Freunde in meinem Haus, als ich kein Brot hatte, um sie zu bewirten, also übernachteten sie ohne Abendessen. Das war für mich schlimmer als heute, denn das heute wird vergehen, das von damals nie." Bei einer anderen Gelegenheit verlangte der Wesir von Shkodra von seinem Diener, einem Shaljani, er solle ihm seine Landsleute verraten. Und weil dieser nichts sagte, ließ der Wesir ihn foltern, seine Mutter herbeibringen, damit diese vielleicht Mitleid mit dem Sohn hätte und ihm nahelegen würde, dem Wesir zu gehorchen. Die Mutter aber rief: "Kind! Kind! Bewahre Verstand und Ehre! Trauere nicht um dein Blut, das der Wesir vergießen wird."

Andererseits beschreibt der bekannte österreichische Konsul Prohaska die Albaner aufgrund von persönlichen Erlebnissen in Ljumi als das perfideste Volk.

Balkanicus fiel es nicht schwer, sich für eine dieser widersprüchlichen Meinungen zu entscheiden, hatte er sich doch schon im vorhinein bereits entschieden. Bei der Wahl zwischen Miljanov und Prohaska wählte er Prohaska. Er begriff nicht, dass die widersprüchlichen Meinungen über den Charakter der Albaner ein Beweis für eine Übergangsphase ihres gesellschaftlichen Lebens waren: Die Stämme ver-lieren allmählich ihren Machteinfluss; neue Beziehungen gilt es zu formieren. Die marxistische Auffassung der Dinge ist Balkanicus nicht unbekannt; damit wollte er uns einmal ein paar Lektionen erteilen. Allerdings eignet sich diese Anschauung nicht für die Verteidigung der reaktionären Politik seitens der Bourgeoisie, besonders in diesem Falle würde sie das Geheimnis des relativen historischen Wertes der Charakterzüge dieser Stämme und der Abhängigkeit der Züge von der gesellschaftlichen Entwicklungsstufe lüften.

Indem sie sich nur im engen Stammeskreis bewegten, eigneten sich die Albaner ihre charakteristischen Eigenschaften an, die bei ihnen am meisten auffallen: Ehrenwort, Blutsbrüderschaft, Gastfreundlichkeit, Stolz, Ehrsucht. Ähnliches fand Morgan auch bei den amerikanischen Indianerstämmen, er betonte, dass bei ihnen "jeder das unbeugsame Gefühl von Unabhängigkeit und persönlicher Würde in der Haltung eingestehe". Wie bei den Indianern so sind auch bei den Albanern die Charaktereigenschaften Kind der einfachen Verhältnisse im Stammesleben. Von allen Forschern wissen wir, dass die Menschen zufrieden leben, obwohl sie ein Minimum an materieller und geistiger Kultur besitzen. Da die Maßstäbe des Lebens ebenso bescheiden sind wie ihre ganze Umwelt, wird jeder Hirte als Held, als Stolz und Ruhm des Stammes besungen und in den Überlieferungen des Volkes auf die höchste Ruhmes- und Ehrenstufe gestellt. Je weniger entwickelt die Gesellschaft ist, desto klarer ist jede Persönlichkeit zu erkennen. Sie steht über der Gesamtheit, jede Bewegung wird genau kontrolliert, jede Tat gesehen, und man merkt sich, ob die Gäste gut bewirtet, der Freund gerächt, oder ob man singend von den Türken hingerichtet wurde. Die Überlieferungen heben sie für all ihre guten Taten zum Himmel empor, und falls sie einmal nicht die Erwartungen erfüllen, werden sie streng und unerbittlich bestraft. Mit dieser Disziplin bewahrt man die Gemein-schaft.

Aber da sie aus den Stammesgemeinwesen heraus entstanden, verlieren sich die Charakterzüge auch mit ihnen. Durch das Vordringen der Geldwirtschaft, den Fortschritt der Warenwirtschaft und den Bodenraub verliert der Stamm den alten Machteinfluss auf Handeln und Denken jedes Einzelnen, und anstelle der ordinären moralischen Tugenden treten neue moralische Begriffe. Friedrich Engels schrieb:

"Die Macht dieser naturwüchsigen Gemeinwesen musste gebrochen werden — sie wurde gebrochen. Aber sie wurde gebrochen durch Einflüsse, die uns von vornherein als eine Degradation erscheinen, als ein Sündenfall von der einfachen sittlichen Höhe der alten Gentilgesellschaft. Es sind die niedrigsten Interessen – gemeine Habgier, brutale Genusssucht, schmutziger Geiz, eigensüchtiger Raub am Gemeinbesitz-, die die neue, zivilisierte, die Klassengesellschaft einweihen; es sind die schmählichsten Mittel – Diebstahl, Vergewaltigung, Hinterlist, Verrat, die die alte klassenlose Gentilgesellschaft unterhöhlen und zu Fall bringen."

Bis zu dem Grad, zu dem die alte gesellschaftliche Ordnung von der neuen verdrängt wurde, erfolgte auch der "Sündenfall" und verschwanden auch die einfachen Tugenden der Stammesmoral. Da diese Entwicklung in allen Regionen Albaniens verschiedene Stufen erreichte, sind auch die Meinungen von Reisenden und Kennern über den Charakter der Albaner sehr unterschiedlich. Dieser Unterschied ist also eine Folge der Veränderungen, die die Moral durch den Zerfall der Stammesordnung erfährt. Demnach können alle im Recht sein, sowohl die einen, die die eine Seite sahen, als auch die anderen, die etwas anderes wahr-nahmen. Vielleicht haben ja beide recht, Marko Miljanov und Prohaska. Allerdings sind jene, die aufgrund dieser Beobachtungen die Albaner als besonders sympathische Rasse zeichnen, genauso wenig im Recht wie jene, die aufgrund derselben Beobachtungen den Albanern das Recht absprechen, in die Gemeinschaft der kulturellen Welt aufgenommen zu werden.

Sowohl die moralischen Begriffe und persönlichen Tugenden als auch das ganze geistige Leben der Albaner sind von der Stammesordnung und den engen Bezirks-grenzen geprägt. Balkanicus schenkte der Volkspoesie viel Aufmerksamkeit. Alle Volkspoesien sind innerhalb der Grenzen der Erfahrung des Volkes eingebettet. Natürlich ist auch die Erfahrung der Albaner, wie bei allen anderen Stämmen, durch den engen Horizont des Stammeslebens beschränkt. In der Volkspoesie erkennt man die Gefühle, Wünsche und Sehnsüchte der Menschen, deren geistiges Leben sich nicht abheben kann von der Umgebung, in der sie sich befinden. Um das zu bekräftigen, stehen uns leider keine Sammlungen albanischer Volkslieder zur Ver-fügung. Aber wir haben eine Liedersammlung der Kuci, die uns sogar noch mehr bestätigt, nämlich dass die montenegrinische Poesie nicht viel anders ist als die der Kuci. So versammelten sich also einst einige Kuci in einem Wirtshaus, tranken Bier, wie es sich für Helden nun einmal gehört, und besprachen ihre nächste große Tat! Und einer sagte:

"Du weißt, Ivan, es ist noch nicht so lange her,
dass sie den Kom Klimenti zu erobern versuchten;
sie erschlugen Grba Radonic,
pfändeten unsere weißen Schafe,
und wir haben sie noch nicht gerächt…"

Ivan entschloss sich zur Rache, traf zwei Cousins, zwei aus der Familie Memedcevic, und teilte ihnen mit:

"Grüß euch Gott, junge Vettern,
habt ihr die Schafe und Hirten von Klimenac ausspioniert,
damit wir endlich losschlagen können?"

Die Cousins erwiderten:

"Die weißen Schafe haben wir ausspioniert,
sie wären keine Gefahr,
aber es ist nicht einfach, nach Cijevo zu gehen,
geschweige denn, die Schafe zu vertreiben."

Man soll nicht glauben, das sei nur der Inhalt eines Liedes; nein, im ganzen Zyklus wird am liebsten von den Geschehnissen beim Diebstahl von Schafen gesungen! Das zeigt nun wieder, dass diese Stämme Jahrhunderte lang im gegenseitigen Kampf um jeden Gipfel, jede Schlucht, jeden Hammel standen. Wird Balkanicus aufgrund dessen jetzt den montenegrinischen Stämmen die Fähigkeit absprechen, in einem eigenständigen Staat zu leben? Im Gegensatz dazu weist unsere Volkspoesie nichts Gemeinsames mit diesen geistigen Produkten der ewigen Hirten auf, weil sie Produkt eines Volkes ist, das weder von der Ausschließlichkeit des Stammes eingeengt noch vom räuberischen Kampf ums Überleben erfüllt war, und weil sie aus einer breiten historischen Grundlage entstand, aus einer Erinnerung an das einstige, mächtige Staatsleben.

Jedes Geistesprodukt der Albaner musste gegen die engen Stammes- und lokalen Grenzen antreten. Über die Grenzen hinaus war es schwer zu gelangen, denn zwischen den einzelnen Stämmen und Bezirken gab es keine kulturelle Wechsel-seitigkeit. Aber auch Balkanicus führt die Sache ad absurdum, wenn er behauptet, die Albaner hätten keine Ahnung von ihrer schillerndsten historischen Persönlich-keit, Skender-Beg, sie hätten ihn vollkommen vergessen, und es gäbe kein Lied über ihn. Ich forschte nicht allzu intensiv nach diesen Liedern, trotzdem erfuhr ich nach nur ein paar Tagen meines Aufenthaltes in Elbasan von einem typischen Lied über Skender-Beg, das folgendermaßen beginnt:

"Woher kommst du, tapferer Hauptmann?
Von den Kämpfen, von den Balkangebirgen.
Kennst du ihn, du tapferer Hauptmann,
den ruhmreichen albanischen König Skender-Beg?
Ihn kenne ich ganz gut, mit ihm führte ich Krieg.
Er ist ein guter Held, für Albanien er sein Leben ließ;
Feinde pflegte er zu töten, umzubringen,
erst als er tot, waren sie ihrer Leben sicher."

Der Eifer des Balkanicus bei seiner Geringschätzung des albanischen Volkes als Rasse geht soweit, dass er die historische Rolle des Skender-Beg dessen Ab-stammung von der Serbin Vojislava zuschreibt! Wie weit die kuriosen Wider-sprüche der längst veralteten Theorie gehen, zeigt das nächste Beispiel: Einer der besten, anerkannten Vertreter der serbischen Geschichtswissenschaft, Jovan Tomic, schreibt in seinem Buch über die Albaner, ein Teil des albanischen Stamm der Klimenti sei nach Rudnik gezogen, einige sehr angesehene Persönlichkeiten unseres Volksaufstandes von 1804 würden von ihnen abstammen. Wir wissen nicht, an wen Herr Tomic dabei denkt, viele Forschungen scheinen aber zu bestätigen, dass der Anführer des Aufstandes, der Begründer der Dynastie der Karadjordjevic, Kara-Djordje Petrovic, albanischer Abstammung war!

 

 

II. Die Autonomie Albaniens 

1. Die Entstehung der Autonomiebewegung

Die türkische Vorherrschaft auf der Balkanhalbinsel war das Resultat eines militärischen Sieges, später wurde sie vor allem durch das Feudalsystem aufrecht-erhalten. Aus diesem Umstand hatte die staatliche Struktur des osmanischen Reiches vorwiegend militärisch-feudalen Charakter. Trotz aller Reformbewe-gungen und -versuche behielt die Türkei diesen Charakter bis zum heutigen Tage. Sie erinnert immer an ihren Ursprung in militärischen Eroberungsfeldzügen, ihre feudale Struktur zeigt sie sowohl in Verwaltungssystem und -verteilung als auch in der Heeresorganisation, dem Steuer- und Schulsystem, den Befugnissen der Kirche und fast allen anderen öffentlichen Institutionen und Funktionen.

Als äußeres, sichtbares Zeichen dieser Ordnung sehen wir Ende des 18. und Anfang des 19. Jh. in der Türkei eine ganze Reihe von autonomen Gebieten und Privi-legien, die, von einer höheren historischen Warte betrachtet, nichts anderes waren als Folgen der feudalen staatlichen Ordnung. Ebenso, wie sich die Leibeigenen im feudalen Wirtschaftssystem einer an den anderen reihen, einer an den anderen grenzt, aber jeder für sich und dem Wirtschaftsorganimus gegenüber eine eigene Einheit darstellt, eine Art Staat im Staat, so ist auch der Staat in der feudalen Staatsordnung keine Ganzheit des Organismus, sondern ein bloßes Aggregat einzelner Gebiete. An den türkischen Staat waren die Gebiete allein durch mecha-nische Verbindungen militärisch-administrativer Art gebunden, die sich in einem Pascha an der Spitze eines Gebietes oder einer Garnison, einem städtischen Gen-darmen, Spahi oder Richter verkörperten. Subtrahiert man eine dieser Funktionen – nehmen wir an, sie konnte aus irgendeinem Grund nicht eingeführt werden -, wird das Territorium eine Art von autonomem Gebiet, das sein eigenes selbständiges Innenleben hat und sich nur aufgrund der Steuersummen und bestimmter militärischer Verpflichtungen daran erinnert, dass es eigentlich zur Türkei gehört.

Ende des 18. Jahrhunderts gibt es viele solche autonome Gebiete auf der Balkan-halbinsel. Den autonomen Privilegien nach ist die Gebirgsgegend von Montenegro, über Nord- und Mittelalbanien, Pindos, Olymp bis hin zum Heiligen Berg am wichtigsten. In diesem ärmlichen und schwer zugänglichen Gebirgs-streifen, der die Adria von den fruchtbaren Tälern Altserbiens und Makedoniens trennt, genossen viele Ort und Stämme Jahrhunderte lang weitgehende Autonomie-rechte. Selbst zur Zeit ihrer höchsten Macht gelang es der Türkei nicht, sie ihrer unmittelbaren Verwaltung zu unterstellen, sie begnügte sich lediglich mit der bloßen Anerkennung ihrer Macht und der Verpflichtungen, sei es in Form von Steuern oder Soldaten oder beidem.

Die autonomen Privilegien der albanischen und montenegrinischen Stämme in den Bergen Nordalbaniens beschränkten die Beziehung zwischen den Stämmen und dem Staat fast ausschließlich auf militärische Unterstützung. Nicht nur, dass die Stämme ihre völlige Selbständigkeit durch Stammesgesetz und Gewohnheitsrecht bewahren konnten, genossen sie auch das Recht, dass anstelle der türkischen Behörden die Stammesoberhäupter die Stämme regierten und keinem etwas zahlen mussten. Die Bestrebungen dieser Stämme, sich selbst zu regieren und niemandem etwas zu zahlen, sollten jedermann verständlich sein. Dass diese Bestrebungen aber nicht ohne Gegenleistung waren, hängt sicher mit der schrecklichen Ungleichheit unter den Opfern zusammen, die durch die Haltung dieser Stämme gehorsam sein mussten, und dem Nutzen, den man daraus erwarten konnte.

Es gelang den albanischen Stämmen, das Verhältnis zum türkischen Staat in dieser Form bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts, ja selbst noch in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts, aufrechtzuerhalten. Selbst heutzutage erinnert man sich in Albanien noch an diese Zeit der Unabhängigkeit Albaniens, eine Zeit, als jeder Stamm frei unter der Herrschaft seines Stammesoberhauptes lebte, als man keine Kopfsteuer zahlte und die einzige Verpflichtung dem Staat gegenüber die militärische war, und selbst das nur in begrenzter Zahl und unter der Flagge des jeweiligen Stammes.

Die Betrachtung der früheren Beziehungen der albanischen Stämme mit der Türkei sind für uns in Hinblick auf die Erklärung der späteren Autonomiebewegungen enorm wichtig. Da keine Bewegung in der Geschichte außerhalb der eigenen Geschichte entstand, lehnten sich auch die albanischen Bewegungen und Autonomiebestrebungen an die Geschichte der autonomen Verhältnisse an, liehen sich ihre Forderungen, erachteten sie als Ideal. Zumindest schwebte es während aller Autonomiebewegungen den nordalbanischen Stämmen und Volksmassen so vor.

Und als die Türkei eine Möglichkeit suchte, den weiteren Zerfall des Reiches zu stoppen, indem sie eine totale Zentralisation in der Staatsverwaltung unternahm, ließ sie auch die albanischen Stämme nicht mehr unter den gleichen privilegierten Bedingungen in ihren Bergen leben. Anstelle ihrer Oberhäupter begann sie eigene Leute, anstelle der Stammesgerichte ihre eigenen Richter aufzustellen und forderte von ihnen Steuern und Soldaten ein. Der Konflikt war vorprogrammiert. Die Bergbewohner kämpften auf Leben und Tod um ihre Stammesautonomie.

Die Autonomiebewegung organisierte sich in Form der Albanischen Liga, die 1878 gegründet wurde. Zum Zeitpunkt, als der Abgesandte der Türkei auf dem Berliner Kongress, Mehmed Ali-Pascha, die Begünstigungen und außergewöhnlichen Rechte der albanischen Stämme beklagte, hielten in Prizren Vertreter aus ganz Albanien eine Vollversammlung ab, wählten einen Zentralausschuss und verlangten bei der öffentlichen Versammlung am 5. Juni u.a.:

"4) die Liga hat sich mit aller Macht dafür einzusetzen, den Albanern ihre Selbständigkeit zurückzugeben, die man ihnen vor mehr als hundert Jahren nahm, d. h., es sollen keine Staatsbeamten aus Konstantinopel mehr auf Befehl des Sultans hin beordert werden, sie sollen von den Albanern selbst gewählt werden und 5) der Sultan solle keine Rekruten und Steuern mehr einfordern."

Man sieht, dass sich die Forderungen der Albanischen Liga mit den autonomen Stammesprivilegien aus früher Zeit decken.

Es fällt nicht schwer zu erkennen, dass der Kampf gegen die Steuerabgaben vor allem im Interesse der mächtigen Gemeinschaften, der Begs, der Stammeshäupter und der Dynastien war. Ferner war auch die Stammesautonomie für jene Elemente von besonderer Bedeutung, deren Existenz im Stamm gesichert war. Allerdings genossen diese Elemente die vollständige Unterstützung der Stammesfraktion, der verarmten und ausgehungerten Masse, die der Hauptfaktor in allen albanischen Bewegungen war. Die Masse verlangte Stammesautonomie, erstens, weil sie unter dem Einfluss patriarchalischer Unterwürfigkeit von Seiten des einflussreichen Stammeselementes stand, zweitens, weil sie im fremden Einfluss und in der Auflösung ihrer Stammesordnung die Ursache für ihre Armut und Einschränkungen im Leben sahen, die sich mit dem Vordringen der Geldwirtschaft bei ihnen breitmachten.

Aber schon beim ersten Treffen der Albanischen Liga in Prizren 1878 kam es zwischen den Vertretern aus dem Norden und dem Süden zu unterschiedlichen Auffassungen über die Autonomie Albaniens. Während die Vertreter der primitiven nordalbanischen Stämme mit der Rückgabe der Stammesprivilegien zufrieden gewesen wären, verlangten die Vertreter aus dem Süden die vollkommene Selbständigkeit Albaniens und erkannten die Macht des Sultan nicht an. Diese Meinungsverschiedenheit steht bei allen späteren Treffen im Vordergrund, wobei, und das werden wir nachher sehen, die sozial weiter entwickelten Gebiete Mittel- und Südalbaniens Garant dafür waren, dass die Autonomiebewegung Albaniens nicht unter den reaktionären Bestrebungen der primitiven Nordstämme begraben wurde.

Der Sieg der Bestrebungen des fortschrittlicheren Südens kam unerwartet schnell. Nach zwei Jahren wurden 1880 bei dreitägigen Verhandlungen der Vertreter aller Albaner, sowohl Moslems als auch Katholiken, in Shkodra folgende Forderungen vereinbart:

"Wir bitten den gnädigen Sultan: 1. uns innere Autonomie, die alle albanischen Länder umfassen würde, zu gewähren; 2. die Hohe Pforte den von uns gewählten Fürsten, dessen Rechte erblich sind, in seinem Amt zu bestätigen; 3. die Summe an Kopfsteuer zu bestimmen, die wir dann jährlich dem Herrscher abzugeben gewillt sind; 4. die Zahl an Soldaten festzulegen, die wir dem Sultan im Fall eines Krieges mit ausländischen Staaten gerne zur Verfügung stellen; 5. im Austausch dafür erwarten wir den Rückzug der türkischen Truppen aus den Städten und Befestigungen in unserer Heimat; 6. dass unsere Beziehungen zur Pforte durch einen albanischen Vertreter in Konstantinopel geregelt werden; 7. alle osmanischen Staatsbeamten, die national nicht zu uns gehörig sind, durch albanische ersetzt werden, die der Fürst bestimmt."

Nach dem Kongress machte man sich gleich an die Arbeit, und innerhalb eines Monats verließen türkische Behörden und Armeegarnisonen ganz Nordalbanien, mit den Hauptorten Shkodra, Prizren, Djakovica, Pec und Pristina. Albanien erlebte eine allgemeine revolutionäre Wende.

Die Forderungen des Shkodra-Abkommens sind auch aufgrund der vollkommenen Entsprechung jener Forderungen charakteristisch, die ein Jahrhundert vorher im Laufe des historischen Bestehens der unabhängigen Fürstentümer Moldau und der Walachei, Serbiens und anderer Balkankleinstaaten erhoben wurden. Mehr noch, sie sind radikaler als die Forderungen der serbischen Volksaufstände für Autonomie 1793 und 1804, und in allen wichtigen Punkten decken sie sich mit den serbischen Forderungen, die in Kragujevac am 1. Januar des kritischen Jahres 1813 von der Versammlung beschlossen wurden.

Wenn wir dies den serbischen Schriftstellern und Politikern vor Augen führen, die über die Albaner gerne Illusionen verbreiten, die notwendig sind für die Rechtfertigung der öffentlichen Politik, übersehen wir auch nicht die große Differenz zwischen der einen und der anderen Bewegung. Unser Volksaufstand zur Befreiung von der türkischen Herrschaft war von revolutionärem Charakter, denn er wurde von der breiten Bauernmasse des serbischen Volkes getragen, die im krassen Klassengegensatz zu den türkischen Spahis standen, die die politischen und gleichzeitig die wirtschaftlichen Herrscher waren. Bei den albanischen Autonomie-bestrebungen sind jedoch die Oberschichten, herausragende Einzelpersonen und geistig fortschrittlichere Landsleute aus Italien, Konstantinopel und aus dem Süden [Albaniens] Träger der Bewegung. Die wirtschaftliche Differenz zwischen den Begs und ihren Sklaven konnte hier kein Motor für die nationale Bewegung sein, denn die Begs waren, ähnlich wie in Bosnien, islamisierte Albaner.

Obwohl man bei der Gründung der Albanischen Liga mit einer gemeinsamen Aktion der Albaner und der Christen rechnete, verhinderten die Ereignisse bereits zu Beginn diese Aktion. Ein italienisch-albanischer Ausschuss, der 1876 in Milano gebildet wurde, versprach, "die mutigen Brüder Makedoniens, des Epirus und Albaniens aufzufordern, den Südslawen bei ihrem Kampf gegen ihre Unterdrücker beizustehen. Bis dahin richtet er einen brüderlichen Gruß und ein Lob an das groß-herzige slawische Volk." Unmittelbar danach fanden sich die Albaner zwischen Hammer und Amboss wieder, zwischen der Türkei, gegen deren Joch sie kämpften, und den Balkanländern, die ihnen ein neues Joch brachten. Serbien unterdrückte und vertrieb die albanische Bevölkerung aus vier eroberten Bezirken, Montenegro stieß vom Norden her vor, in das Herzstück der nordalbanischen Stämme, und Griechenland forderte gewisse Gebiete im Süden. War die Liga auch in Wirklichkeit zum Zwecke des Widerstandes gegen die türkische Herrschaft ent-standen, musste sie von Anfang an an zwei Fronten kämpfen: sowohl gegen die Nachbarn, die die albanischen Stämme demütigten, als auch gegen die türkische Vorherrschaft, die sie beengte. Der Kampf gegen die Nachbarn trug am meisten zur raschen Erweiterung der Liga bei, allerdings öffnete sie auch den Herrschern in Konstantinopel Tür und Tor; so wurde sie von diesen in den Streitigkeiten mit den christlichen Staaten für ihre Zwecke missbraucht. Als sie ihre Kämpfe mit den Balkanländern mit Hilfe Europas beigelegt hatte, erstickte die Pforte die Liga blutig im Keim, zwischen den Albanern und Christen in der Türkei kommt es dann aber zu Feindschaft und nationalem Hass.

 

 

2. Der Norden und der Süden; die Gegen und die Tosken

In den politischen Differenzen zwischen den Vertretern des Nordens und des Südens, zwischen den Gegen und den Tosken, spiegelt sich der Unterschied in der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung Nord- und Südalbaniens wider; der Unterschied in der Konzeption der Mittel und der Ziele der Autonomiebewegung ist nur Ausdruck der Differenz, die in den Meinungen und Bestrebungen zwischen den Vertretern der Stämme und den Vertretern der Klassen bestehen. Die Nation ist nicht nur ein natürliches Gebilde, sondern auch eine kulturelle Gemeinschaft, so wie es Otto Bauer sagte. Damit sich unterschiedliche Stämme, die, sagen wir einmal, gleicher Abstammung sind, einander geistig und politisch annähern, sowie wir es bei einem Volk gewohnt sind, ist es notwendig, dass diese unter dem gegenseitigen Einfluss gemeinsamen kulturellen Lebens stehen. Je unter-entwickelter das gemeinsame Leben bei einigen Stämmen ist, desto stärker sind deren Verfremdung und Absonderung, desto weniger fühlt man den Einfluss jener Tendenzen, die die Stämme in einer gemeinsamen nationalen Einheit vereinigen sollen.

Falls jeder Stamm und jede Region ein eigenes Leben führen, ohne Berührung und Gegenseitigkeit, wo es zu keinem Ausgleich und keiner Annäherung kommt, sondern wo der umgekehrte Fall eintritt, spezialisiert sich dann jeder Stamm noch mehr auf seine enge Basis und entfremdet sich von den anderen. Während Prof. Cvijic in makedonischen slawischen Besiedlungen forschte, fand er von Tal zu Tal, von Gegend zu Gegend, sehr sichtbare Spuren der Spezialisierung und Entfremdung im Laufe der Entwicklung. Wie stark war dann erst das Gesetz der Spezialisierung bei den albanischen Stämmen, die fast außerhalb jeglicher kultureller Gemeinschaft lebten! Der mächtige Einfluss dieses Gesetzes ist bei jedem Schritt zu spüren. Nur eine schreckliche Entfremdung der Stämme konnte so viele Dialekte schaffen wie es Stämme gibt, die Gegen im Norden und die Tosken im Süden können sich kaum verständigen. Die Zersplitterung des Lebens auf Stämme und Regionen war die Grundlage für die heutige religiöse Trennung der albanischen Bevölkerung. Der religiösen Trennung entspricht auch die politische, so wirkten und wirken noch heute von Stamm zu Stamm, und von Provinz zu Provinz verschiedene politische Fremdeinflüsse. Demnach sind die Unterschiede in Sprache und Religion, in politischen Bestrebungen und Einflüssen usw. Spiegel der Verfremdung der Stämme und des Fehlens von Gegenseitigkeit und Verkehr im Leben der Albaner.

Ob das allerdings jenen recht gibt, die aufgrund dieses Sachverhaltes den Albanern jegliche Fähigkeit absprechen, in Zukunft andere Resultate zu erzielen, bezweifle ich.

Man muss vor allem mit einer wissenschaftliche Lüge brechen, die man uns seit dem Feldzug der serbischen Armee in Albanien in hundertfacher Weise auftischt, obwohl sie in der Wissenschaft schon längst zum alten Eisen gehört. Die Elemente, die eine Nation zur Nation machen, und die Faktoren, die die Bedingungen für ein gemeinsames Staatsleben definieren, kann kein ernsthafter Mensch durch Vermessen von Schädeln und Rassenforschung aufdecken, sie werden von der Geschichte und Sozialisation bestimmt. Man muss das Leben des Volkes studieren und seine sozialen Institutionen und Beziehungen zergliedern! Erst dann werden wir sehen, mit welchen Hindernissen man bei der Schaffung eines autonomen Albanien rechnen muss, aber wir werden auch erkennen, dass das Leben nicht an den Grenzen Albaniens haltmacht und die Geschichte über die Albaner noch nicht das letzte Wort gesprochen hat.

Wir betonten bereits, dass die Vertreter der primitiven nordalbanischen Stämme vollkommen andere Vorstellungen von der Autonomiebewegung haben als die Händler und Begs des Südens. Und während die Gegner der Albaner glauben, dies sei ein Beweis mehr für die Schwäche der gesamten Bewegung, sehen wir diesen Unterschied als Reifeprozess des Autonomiegedankens, als Übergang von reaktionären, primitiven Formen der Vergangenheit zu Auffassungen, die Zukunft haben, das Übertreten der engen Grenzen von Stammesbedürfnissen und Stammes-ansichten. Einem Shaljani, Ghasi oder Krasnic des Nordens mag die Frage seiner Stammesautonomie am wichtigsten sein, denn sein ganzes Leben spielt sich noch immer innerhalb der Stammesgrenzen ab, während auf der anderen Seite einem Beg, einem Getreide- oder Viehhändler, oder der Jugend, die im Ausland studierte, diese Frage nicht unbedingt als Lösung erscheint.

Während einerseits die Vertreter der primitiven Stämme des Nordens glauben, sich selbst zu genügen, in der Bewegung nur ein Mittel zur Durchführung der Stammesautonomie und Festigung ihrer Herrschaft sehen, fühlen sich andererseits die Begs des Südens schon als Klasse und wittern in der Bewegung ein Mittel zur Erweiterung ihrer Klassenherrschaft in ganz Albanien. Die nordalbanischen Stämme begreifen die Autonomiebewegung als Erneuerung der alten Privilegien von Stammesautonomie; sie sind eifrige Verfechter der überholten Stammes-privilegien; und weil diese Bestrebungen nicht im Einklang mit der modernen gesellschaftlichen Entwicklung stehen und obendrein in einem modernen Staat unmöglich sind, sind sie reaktionär und dem Untergang geweiht.

Allerdings gibt es zwischen dem Süden und Norden nicht nur eine Differenz in der Auffassung von Autonomie, sondern auch in der Haltung und den Taten hinsichtlich der Autonomie. Die Bergbewohner des Nordens sind beweglich, immer zum Aufstand bereit, Aufständische, die Tosken des Südens sind hingegen eine Art "Theoretiker" der albanischen Autonomiebewegung. Die Bergbewohner des Nordens, die Gegen, sind also ständig bewaffnet, vertrauen allein auf die Waffen und glauben, dass das Recht, Waffen zu tragen, auch andere Rechte beinhaltet. Die Südländer haben diese Phase, in der der Stamm noch die Welt bedeutete und das Gewehr das größte Heiligtum war, bereits hinter sich. Die Reicheren aus ihren Reihen, besonders die Händler und Begs, verweigern der Pforte die Rekruten, sie wünschen sich ein eigenes Heer, weisen die Beamten aus Konstantinopel zurück, hätten aber gerne ihre eigenen; sie versuchen die türkische Herrschaft abzu-schütteln, möchten keine Rückkehr zur alten Stammesisolation und Anarchie, sondern die Organisation eines autonomen Albanien, in dem die türkische Herrschaft von ihrer Klasse ersetzt würde. Süd- und Mittelalbanien sind also die echten Träger der modernen Bewegung für ein autonomes Albanien. Aus den südlichen Gegenden sowie aus der Vendée des albanischen Nationalismus stammten auch die ersten Forderungen nach einem albanischen Alphabet und einer albanischen Schule. Die nördlichen Stammesführer messen ihre Macht immer noch an der Zahl der bewaffneten Männer, die Tosken im Süden eröffnen Schulen, geben Zeitungen heraus und drucken Bücher in albanischer Sprache.

Nach dem Ende der Liga 1881 war die Pforte den Albanern des Südens gegenüber viel strenger als zu jenen des Nordens und vertrieb weit mehr als eintausend Familien nach Kleinasien. Schon damals sahen die Herrscher Konstantinopels ein, dass ihnen vom Süden her größere Gefahr drohte, und das mit Recht. Denn während die nordalbanischen Stämme ständig in Konflikt mit der Pforte waren, weil sie oft ganze Aufstände für die Absetzung eines Beamten organisierten, gab es in Mittel- und Südalbanien einen stillen Prozess nationaler Einigung. Den Informationen zufolge, die ich in Elbasan erhielt, waren vor den Ereignissen am Balkan mehrere Blätter erschienen, darunter "Tomori" (nach dem Gebirge Tomori benannt) in Elbasan, "Bashkim" (Einheit) in Bitola, "Korca" in Korca, "Sdjim" (Erwachen) in Janina usw. Es gab mehr als hundert albanische Schulen, unter ihnen auch eine Lehrerakademie in Elbasan mit 200 Studenten. Die Bücher waren in albanischer Sprache und lateinischem Alphabet.

Sowohl in Albanien als auch in Makedonien besitzt die Religion eine solche Macht, dass sich auch Parteien auf Basis der Religion bilden. Besonders stark religiös sind die islamische, orthodoxe und katholische Partei, die erste hat folgende Devise: Alle Moslems sollen in der Türkei leben, die zweite ist Ausdruck griechischen Einflusses, die letztere Ausdruck der Einflüsse Österreichs und Italiens. Die besten Aussichten hat die nationale Partei, die sich die Vorbereitung des albanischen Volkes für eine nationale Revolution zum Ziel gesetzt hat. Sie sucht unter den Albanern aller Glaubensrichtungen Anhänger, sie kämpft verbissen gegen die religiöse Ausschließlichkeit, die noch immer so stark ist, dass ein Dorf mit einem anderen Dorf anderen Glaubens nicht einmal während des Okkupationsregimes des serbischen Militärs Mitleid hatte, sie führten zusätzlich auch untereinander Glaubenskriege. Mehrere Lieder stammen aus diesem Kampf, in denen die folgenden Strophen charakteristisch sind:

"Nieder mit dem Kerker, nieder mit der Dummheit,
die unsere Feinde gegen uns verwenden:
die einen sind in der Kirche, die anderen in der Moschee –
wir sind Brüder, wir lassen uns nicht trennen."

Oder:

"Ihr Albaner, man teilt euch in 20 Sekten ein,
man versucht euch irrezuführen.
Einer meint, er habe einen Glauben, der andere eine Religion,
einer sagt, er sei Türke, der andere ein Latiner,
einige nennen sich Slawen, andere Griechen,
ihr seid doch alle Brüder, ihr armen Leut´."

All das erinnerte uns, als wir uns in Elbasan nach der Bewegung erkundigten, an die Zeit des 15., 16. und 17. Jahrhunderts in Europa und die feine Darstellung der orientalischen Revolutionen von Bauer. Wir suchten den Kontakt zu Vertretern der Bewegung, aber wir trafen unfreundliche Begs, reiche Händler und Vertreter der türkischen Beamtenschaft albanischer Abstammung, die unter Abdul Hamid die Karriereleiter bis zum Pascha emporstiegen und die nun eine Art albanischer Aristokratie darstellen, der die Jungtürken genügend Zeit ließen, um sich mit den Angelegenheiten des "Volkes" zu beschäftigen! Sie unterhielten Beziehungen zu den zahlreichen Kollegen in Konstantinopel und nebenbei auch zu Leuten, die bald in des Sultans Gunst standen, bald in seinem Kerker waren, deren populärster Vertreter der Chef der Übergangsregierung Ismail Kemal ist. Die gebildete neue Generation dieser Reihen trinkt Wein und kritisiert die Lehre Mohammeds, bekämpft die unerträglichen religiösen Zwänge durch Gründung neuer Sekten und die politische Unbedeutsamkeit, indem sie die Autonomie Albaniens predigt. Daher stammt auch die weitest verbreitete und stärkste Glaubensorganisation in Albanien, die Bektaschi, die gleichzeitig die entschiedensten Träger des albanischen Nationalismus sind.

Dieser Strömung im Süden gegenüber waren die Jungtürken anfangs tolerant. Je stärker sich diese Bewegung national färbte, desto offener, unversöhnlicher und feindlicher traten aber die Jungtürken gegen sie auf. In diese Zeit fallen auch die blutigen Militärexpeditionen in den Norden Albaniens, deren Ziel es war, die nord-albanischen Stämme endgültig ins das Joch der türkischen Staatsgewalt zu spannen, jene Expeditionen, die eine ganze Reihe albanischer Aufstände nach sich zogen.

Die historische Bedeutung der Aufstände und die blutigen Kämpfe im Norden für die Fragen, die wir hier behandeln, liegt im Aufbau der Beziehungen zwischen dem Norden und Süden, zwischen den Gegen und den Tosken. Die Südländer begannen den Wert der materiellen, physischen Kraft der nördlichen Stämme, die diese in den Dienst der gemeinsamen Bewegung stellten, zu schätzen, das Haupt der Bewegung sollte jedoch der Süden sein. Auch diesmal waren es die Stämme des Nordens, die die Massen in Bewegung setzten und durch Altserbien bis hin nach Skopje gingen. Allerdings standen sie jetzt in Verbindung mit den Vetretern des Südens, die bereits die Fraktionsbildungen im türkischen Parlament für ihre politischen Forderungen nutzten. Die Vereinbarung zwischen beiden wurde durch die Gebiete östlich des nordalbanischen Karstes erleichtert, dessen Bewohner die ursprüngliche Stammesbasis verließen und den Stammesrahmen sprengten, der noch heute ihre Brüder, die blieben, einfasst, und durch den Kontakt zu ihren slawischen Nachbarn können diese Bewohner die albanische Bewegung nun von einem breiteren, nationalen Standpunkt aus betrachten.

So verhielt es sich mit der Bewegung in Albanien zum Zeitpunkt, als die Armeen der Balkanländer die Grenzen überschritten.

 

3. Zukunftsperspektiven

Die selbständige Bewegung der Albaner wurde durch die Ereignisse am Balkan gestoppt, und Albanien wurde, in erster Linie aufgrund des Eroberungsappetits der Balkanstaaten, zur Vorhut zweier europäischer Großmächte am Balkan, nämlich Österreich-Ungarns und Italiens. Das weitere Schicksal Albaniens ist nach der Londoner Konferenz eine Angelegenheit Europas. Wie auch immer die Konferenz ausgehen mag, die Institution eines autonomen Albanien wird für das albanische Volk die Bedeutung einer politischen Revolution haben, unter deren Einfluss die alten Lebensverhältnisse und -sitten halsbrecherisch schnelle Veränderungen werden durchmachen müssen.

Diesem neuen vermeintlichen Staat wollen wir nicht die Zukunft voraussagen. Er wird sich sicher mit größeren Problemen konfrontiert sehen als die Geburtswehen es ohnehin schon waren, die er noch immer spürt. Er wird sich sowohl mit der Vergangenheit als auch mit der Zukunft auseinandersetzen müssen. Die Vergangenheit hinterließ ihm folgendes Erbe: Im Norden die Stammesprimitivität und -ausschließlichkeit, im Süden das höchst unerträgliche Feudalsystem, und sowohl im Norden als auch im Süden die ungebildeten Volksmassen, religiöse Trennung und Einfältigkeit, politische Zersplitterung, das Fehlen jeglichen Verkehrs zwischen den Stämmen und Provinzen, das Fehlen eines allgemeinen Zentrums, das das Leben in eine bestimmte Richtung weisen könnte. Neben diesen Pannen, die das Leben in Albanien desorganisiert haben, werden sich in Zukunft noch desorganisierende Einflüsse fremder "Freunde" bemerkbar machen, mit denen die übrigen Balkankleinstaaten genügend Erfahrung gemacht haben.

Im Kampf mit diesen inneren und äußeren Problemen sollten die Volksmassen jene unversiegbare Quelle neuer Kräfte und Mittel sein. Und die Volksmassen sind es auch, die man hinter der patriarchalischen Autorität der Stammesführer und unter der brutalen Ausbeutung seitens der Feudalherren kaum sieht. An den bisherigen Geschehnissen und Bewegungen nahmen sie lediglich als gewöhnliches Instrument der autoritativen Stammesdynastien oder der Beg-Kaste teil. Sie sind keine Mitglieder der Bewegung, ebensowenig sind sie Mitglieder einer albanischen Nation. Sie sind nur Stammesmitglieder oder Sklaven der Feudalherren. Die Nation, die heute bei den Albanern im Entstehen ist, ist eine Nation der Kaste, das nationale Bewußtsein entspricht der sozialen Stellung der Begs und ihrer geschulten Diplomatie.

Damit die Frage Albaniens nicht ausschließlich Sache einer Kaste und Einzelner bleibt, sondern Sorge der breiten Volksmassen wird, muss Albanien seine Nation, seine Bürger bekommen. Es kann sie nur auf gleiche Art und Weise gewinnen, wie auch alle anderen bisher, die es in der Zeit ihrer Nationswerdung schafften, nämlich: Die Kräftigung der Volksmassen bis hin zu einer Kulturgemeinschaft, zu einer Teilnahme am öffentlichen Leben, zu gegenseitigem Austausch. Zusätzlich müssen die Stämme in das gemeinsame Volksleben einbezogen werden, und das erfordert, vor allem, die Zerstörung des feudalen Eigentums und die Befreiung der Bauern.

Aber das ist genau das, was die heutigen albanischen Patrioten nicht zu tun gedenken. Mit der Volksmasse rechnen sie nicht. Über die Masse spricht man seitens der Beg-Kaste und der sorglosen Nachkommen als einer Masse ohne Bewusstsein und Verstand. In Elbasan antwortete mir ein intelligenter Beg auf die ihm gestellte Frage, dass Verfassung und Parlamentarismus nichts für Albanien wären, sondern eher das System der Bojaren in Rumänien! Indem er Rumänien als Vorbild nannte, zeigten der Elbasanische Beg und die Anhänger der nationalen Bewegung, dass sie über das politische Regime nicht sprechen können, ohne an das Beg-System zu denken!

Der Träger fortschrittlicher Ideen im Bereich der Politik und der Wirtschaft kann nur das bürgerliche Element sein, es ist aber in der albanischen Primitivität noch immer unterentwickelt. In den albanischen Städten ist die Bevölkerung völlig verarmt, es gibt einige Begs, Händler und kleine Handwerker. Die Begs sind noch immer die wichtigsten Vertreter des Reichtums und Ansehens. Sie verbringen ihre Zeit äußerst frivol, dem Modus aller Städte nach, in die die europäische Kultur mit ihrem Fortschritt vorgedrungen ist. Jene Stadt, in der die Türme der Agas und Begs weit über die bescheidenen Dächer der Handwerker und Händler hinausragen, kann unmöglich Träger der nationalen Kultur und der politischen Strömungen sein, wie es die Städte der heutigen Kulturvölker waren. Erst mit einem stärkeren Aufschwung der modernen Wirtschaft werden die albanischen Städte zu echten Trägern des Fortschritts.

Das sind nur einige Anmerkungen zu den gesellschaftlichen Verhältnissen bei den Albanern. Unser Ziel ist übrigens nicht zu interpretieren, sondern, indem wir aufzeigen, zu demonstrieren, dass Albanien selbst in dieser Primitivität weder außerhalb der Welt noch außerhalb der Geschichte steht, und die Strömungen und Kämpfe dort weder Aufstände von "Wilden" gegen die "Zivilisation" sind, wie es manche darstellen möchten, noch Früchte des Umherirrens und der Absichten fremder Agenten, wie wiederum andere denken. Diese Strömungen und Kämpfe sind durch die allgemeinen Veränderungen der gesellschaftlichen Beziehungen und Lebensbedingungen in Albanien bedingt, die auch bei anderen Völkern seinerzeit zu ähnlichen Kämpfen und Bewegungen führten. Auch wenn die Formen und Ziele dieser Kämpfe noch sehr unterentwickelt sind, bedeutet das aber sofort automatisch, der "Arnaute" wünsche nichts anderes, verdiene nichts anderes und könne auch nicht mehr besitzen, als er jetzt schon besitzt? Kann man denn behaupten, der feudale Sklave wünsche sich nicht von der Sklaverei zu befreien und die Früchte seiner Arbeit selbst zu genießen? Nach dem Abzug der serbischen Truppen kam es in Mittelalbanien zu Kämpfen untereinander, und sie waren nicht Ausdruck von Stammes- und Religionsintoleranz, wie unsere Presse schrieb, sondern ein Aufstand der Feudalsklaven, Leibeigenen gegen die Versuche der Agas und Begs, die zur Zeit der Okkupation angewachsenen Feudalpflichten abzu-schaffen und den Zustand vor der Okkupation wiederherzustellen.

Die Zusammensetzung des Volkes, das nun in ein autonomes Albanien eingeht, sieht also wie soeben geschildert aus. Über ihre Fähigkeiten, ein selbständiges Staatsleben zu führen, können uns jene, die im "arnautischen Blut" von vornherein Antistaat, Antikultur, antisoziale Elemente sehen, kaum etwas sagen. Man muss einen ganz anderen Weg gehen, im Albaner Stammes- und Klassenmitglied, Herren und Sklaven, Autonomiekämpfer und Feldarbeiter sehen, denn in der Wissenschaft kann es heutzutage keinen Diskurs darüber geben, dass man der geschichtlichen Entwicklungsstufe, der kulturellen Entwicklung und den gesellschaftlichen und politischen Intentionen nach, die Fähigkeiten eines Stammes, in einem Staat zu leben, bewerten muss, und nicht der Rassenzugehörigkeit nach.

Darüber hinaus sollten wir uns die Entwicklung und das Schicksal dieses neuen Balkanstaates ansehen. Nicht in Anbetracht der Sorge um die Zukunft des auto-nomen Albanien, denn diese Sorgen gehören dank der Eroberungspolitik Serbiens, Montenegros und Griechenlands nun, leider, dem stärkeren Österreich-Ungarn und Italien, ohne Rücksicht auf unsere eigene Zukunft. Aber für die Zukunft Albaniens, wie auch aller anderen Kleinstaaten, die das Eroberungsziel Stärkerer sind, sind die Gefahren, die von außen kommen, viel ernster als die von innen. Es wird auf keinen Fall einfach sein, die Stammes- und Religionsgegensätze unter Kontrolle zu halten und die staatliche Organisation in solch einem schrecklich unorganisierten Gesellschaftsleben durchzuführen, es ist aber kein Ding der Unmöglichkeit, es war ja auch möglich, die autonomen Bestrebungen der Fürsten während des Schaffens eines neuen serbischen Staates zu brechen. Albanien wird es schwer fallen, die Gefahren, die sich in den Bedingungen seiner Entstehung und zukünftigen Ent-wicklung verbergen, zu überwinden.

Es gab wahrscheinlich kein anderes Land auf dieser Welt, wo mehr Agenten umherirrten als in Albanien. Sei es, dass sie sich auf die schwächeren Nachbarn verließen oder weit entfernte mächtigere Staaten, alle gehen schon seit Jahren ihren Propagandatätigkeiten nach, die mittels Schulen, Kirchen, Konsulaten, Händler-beziehungen und anderer Institutionen bereits Fremdeinflüssen den Weg geebnet hatten. Das, was sich heutzutage in Albanien abspielt, kann nur im Zusammenhang mit diesen Einflüssen gesehen werden. Sind die Parteiströmungen in Albanien, wie bereits erwähnt, nicht in erster Linie Merkmale der verschiedenen Fremdeinflüsse und fremder Propaganda? Die Kämpfe der Fremdeinflüsse um die Vorherrschaft unterstützen nicht nur die verschiedenen Herrscherkandidaten, sondern sie ver-stärken auch, gepaart mit Religions- und Stammesgegensätzen, den separatistischen Heißhunger der reichen Begs, der Stammeshäupter oder anderer sich hervortuender Persönlichkeiten. Diese Einflüsse stellen jetzt zweifelsfrei das größte Hindernis für die Ordnung interner Verhältnisse dar, ein autonomes Albanien muss gegen diese Einflüsse antreten.

Der Kampf, der die Entstehung aller Kleinstaaten am Balkan begleitete, fällt dem albanischen Volk um so schwerer, als sein erster Staat von Anfang an sehr schwere Mängel aufweist.

Mit ihrer Eroberungspolitik ist es Serbien, Griechenland und Montenegro nicht gelungen, Albanien aufzuteilen, aber es ist ihnen gelungen, es zu schrumpfen und zu rupfen. Albanien erhält ganz formell die Autonomie; allerdings ist diese Autonomie lahm, eine Form ohne Inhalt, ein Recht ohne die wichtigsten Bedingungen für die Verwirklichung, eine Autonomie sumpfigen Küstenstreifens und unfruchtbarer Gegenden, die von den fruchtbaren Gebieten des Ostens und Südens abgeschnitten sind. Die Londoner Konferenz war zu Albanien noch grausamer als der Berliner Kongress zu Serbien. Durch ihre Entscheidungen wurde das albanische Volk zweifellos am meisten geschädigt. Die, die am meisten erhielten, sind aber nicht die Kleinstaaten des Balkan, sondern die interessierten kapitalistischen und herr-schenden Klassen der Großmächte, Österreich-Ungarn und Italien. Erstens stieß die Feindschaft der anderen Balkanländer Albanien geradewegs in die Armee dieser Mächte, und zweitens wird es, je schwächer und unfähiger es ist, ein um so verlässlicheres Instrument für diese sein.

Parallel zur Schwäche wächst auch die wirtschaftliche Abhängigkeit vom Ausland. Alle Versuche der Regierenden, ihr Land vor Gefahr von außen zu schützen, werden Albanien, so wie die anderen Balkanstaaten auch, in immer größere Abhängigkeit vom europäischen Kapitalismus bringen. Wenn Albanien aber ein unsicheres politisches Gebilde ist, wird die Versklavung nicht mittels der Staats-schulden, sondern mittels unmittelbaren kolonialen Raubes vor sich gehen. Ein gut informiertes deutsches Blatt schrieb vor einigen Wochen:

"Die fieberhaften Spekulationen (in Albanien) dauern noch an. Es vergeht kein Tag, an dem keine neuen Jäger nach Konzessionen für Bankgründungen, Eisen-bahnbau, elektrischen Einrichtungen und den Kauf von Wäldern und Bergwerken auftauchen. Im Interesse des Landes kann man froh darüber sein, dass sie fast kein Echo erhalten, weil man mit den Konzessionen noch geordnete Verhältnisse abwarten möchte, bereits abgeschlossene Verträge werden strengstens kon-trolliert und, falls sie nicht im Staatsinteresse sind, annulliert. Man muß hoffen, dass auch der Vertrag mit einem Händler aus Milano über den Verkauf der Wälder Miriditas, von dem in letzter Zeit oft die Rede war, platzt, weil er zum größten Teil ein Gebiet betrifft, worauf der Verkäufer, hinter dem Prenk Bib Dada-Pascha steht, sehr bedenkliches Eigentumsrecht erhebt, das sich auf einem Stückchen Papier, das aus Konstantinopel stammt, gründet, während auf der anderen Seite einige Gemeinden ihren alten Anspruch auf diese Wälder beweisen können. All diese Versuche spekulativer Exploitationen kommen von außen, was dem Land alle Ehre macht. Aber neben dieser Form von Unternehmen wollen viele ernsthafte Händler das Terrain für die wirtschaftliche Eroberung des Landes vorbereiten, indem sie sich über die Sachen, die die Regierung demnächst wird angehen müssen, gut informieren. Sie werden später eine bessere Position haben, weil sie mit gut durchdachten und berechneten Vorschlägen vor die Regierung treten werden können. Auf jeden Fall muß man betonen, dass man sich mit den dortigen Verhältnissen auseinandersetzen muss, möchte man nicht zu spät kommen." ("Kölnische Zeitung" vom 21. Dezember 1913.)

Auf diese Art und Weise werden die kapitalistischen Klassen öffentlich zur kolo-nialen Eroberung aufgerufen. Das, was der europäische Kapitalismus dort vorbereitet, wird in Wirklichkeit die wahre Grundlage des zukünftigen Staates sein. Und während sich die Regierungskreise in Serbien über jeden neuen Tumult in inneren Konflikten freuen, weil sie ja darin die Möglichkeit sehen, ihre Pläne zu verwirklichen, verlieren sie die Tatsache aus den Augen, dass sich an den Adriaküsten die stärkste europäische Macht, der Kapitalismus, breitmacht und nur er "nicht zu spät kommen" wird.

 

 

III. Der Kampf um die Herrschaft im Mittelmeer

1. Das Mittelmeer und die Kämpfe im Orient

Um zu verstehen, warum das ärmste Gebiet auf der Balkanhalbinsel während der Geschehnisse am Balkan die größten Spannungen in Europa hervorrief, muss man in erster Linie betonen, dass es bei den Kämpfen nicht um den albanischen Karst geht, sondern um die Herrschaft in jenem Teil der Adria, der zu Albanien gehört. Der Kampf stellt nicht nur ein wichtiges Kapitel in der Geschichte des serbischen Volkes dar, sondern er fügt sich in den großen, langwierigen Weltkrieg um den Orient und seine Reichtümer, an dem alle europäischen Staaten teilnahmen und wo sie ihre Macht maßen.

Und da die Adria nur ein Teil des Mittelmeeres ist, erscheinen auch die Kämpfe um die Herrschaft in der Adria als Fortsetzung der Kämpfe um die Herrschaft im Mittelmeer. Diese gab es schon längst. Schon vor langer Zeit erweckte der Orient das Interesse der europäischen Völker, und sehr bald entstand ein reger Handel zwischen Ost und West. Der kürzeste, billigste und damals einzig bekannte Handelsweg führte über das Mittelmeer. Dieses Meer scheint die einzige Verbindung zwischen zwei Welten zu sein und der Kampf um die Vorherrschaft in ihm ein Kampf um die sagenhaften Reichtümer des Orients.

An der Stelle, an der das Meer in das europäische Festland am tiefsten ein- schneidet, an den Adriaküsten Italiens, entstanden schon im frühen Mittelalter die ersten Zentren europäischen Handelsverkehrs mit dem Orient. Das waren die italienischen Städte: Venedig, seit dem 9. Jahrhundert städtische Handelsrepublik, der sich im 11. Jahrhundert Genua und Pisa anschließen. Sie hatten weit- verzweigte Handelsbeziehungen zu allen besonders reichen Ländern des Mittel-meeres, zu Ägypten, Syrien, Kleinasien und der Balkanhalbinsel. Und deren Handelsagenten, die in den Levante-Staaten und Asien agierten, verdrängten die griechischen und arabischen Händler oder degradierten sie auf die Stufe ihrer Vermittler; den gesamten Handel mit dem Orient hielten sie in ihren Händen. Im Kampf um die Vorherrschaft im Mittelmeerraum stützten sich die Venezianer vor allem auf ihre Herrschaft an den Adriaküsten, die sie gegen ihre Konkurrenten aus Genua, Pisa und später auch Florenz zu Wasser – und gegen den Ansturm der Madjaren zu Land – verteidigen mussten. In der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts ging "die Perle der Adria" aus diesem Kampf als Siegerin hervor. Sie herrschte ein Jahrhundert lang uneingeschränkt im Mittelmeer.

Die Vormachtstellung der italienischen Städterepubliken im Orient erlitt durch die Eroberungserfolge der Türken einen ersten Rückschlag. Aber sie verstanden es, sich mit dem türkischen Reich zu arrangieren, ebenso verstanden sie es schon vorher und auch danach, ihren kolossalen Reichtum zur Bestechung der serbischen mittelalterlichen Adeligen und zum Schutz der Adriaküste auf dieser Seite einzusetzen.

Den entscheidende Schlag erhielten die italienischen Städte im Orient aber dann von anderer Seite, nämlich von der Verschiebung des Welthandels vom Mittelmeer zum Atlantischen Ozean hin. Im Jahre 1498 gelang es den Portugiesen, den Weg nach Indien um Afrika herum zu finden. Diese große Entdeckung, die eine Revolution in Wirtschaft und Verkehr für die ganze Welt bedeutete, veränderte die Richtung des damals wichtigsten Handelsweges, die unweigerliche Folge dessen war, dass die monopolistischen Privilegien der italienischen Städte im Handel mit dem Orient fielen, bald darauf auch ihre wichtige Vermittlerrolle endete. "In der zweiten Hälfte des 16. Jh.", meint R. Herre, "gab es in Konstantinopel fast keine venezianischen Händler mehr. Ein Gesandter, der vom Goldenen Horn zurückkehrte, berichtete, es gäbe im Handel mit der Pforte nun innerhalb zweier Jahre nicht den Umsatz, den man früher in zwei Wochen erzielt hatte." Der Reichtum des Orients, besonders Indiens, fließt nun vor allem auf dem neuen Seeweg nach Westen. Da die Portugiesen den Arabern den Handel mit Indien zunichte machten, verloren die italienischen Städte den einzigen Handelsvermittler zu Innerasien. Das Mittelmeer war nicht mehr die Verbindung zweier Welten, Brücke zwischen Ost und West. Durch diese große Wende verloren sowohl das Mittelmeer als auch die italienischen Stadtstaaten ihren globalen Charakter. An die Stelle Venedigs und Genuas tritt Lissabon.

Durch die Verschiebung des Welthandels verliert natürlich das Mittelmeer seine globale Bedeutung, aber der Kampf um die Vorherrschaft im selben geht weiter. Die Mittelmeerländer aller drei Kontinente, Europas, Afrikas und Asiens, waren allzu begehrtes Objekt der kapitalistischen Ausbeutung und sehr bedeutende Hohlwege der politischen Eroberung, denen die jungen europäischen kapitali-stischen Staaten nicht gleichgültig gegenüberstehen konnten. Der Kampf setzte sich fort, mit dem Unterschied, dass anstelle der kleinen Stadtstaaten dann die Großmächte die Bühne betreten, hinter denen als materielle Garantie für die Eroberungspläne Millionen von Steuerzahlern und Hunderttausende oder Millionen von Soldaten stehen.

In einem blutigen Krieg eroberte England 1704 Gibraltar, das westliche Tor des Mittelmeeres; 1880 gehört ihm Malta, eine Station zwischen dem westlichen und dem östlichen Teil des Mittelmeeres; beim Berliner Kongress bekam es Zypern zugesprochen, das den Eingang zum Suezkanal kontrollierte, seit 1882 herrschte es dann in Ägypten. Der wichtigste Konkurrent Englands, Frankreich, unternahm zwecks Vorherrschaft im Orient halsbrecherische Expeditionen; seit 1830 setzte es sich an der afrikanischen Küste in Algerien, Tunesien und Marokko fest. Russland versuchte verstärkt, Konstantinopel und die Meeresengen zu besetzen, "den Hausschlüssel", der ihm die Türe vom Schwarzen Meer in das Mittelmeer öffnen würde. Die Durchfahrt wurde ihm ja seit 1841 verwehrt, das wurde im Pariser Friedensabkommen bestätigt, und bis zum heutigen Tage sind all seine Versuche, es außer Kraft zu setzten, erfolglos geblieben.

Zwei großen technischen Errungenschaften, der Eröffnung des Suezkanals und des Eisenbahnbaus von Mitteleuropa in den Orient, verdankte das Mittelmeer die noch-malige Bestätigung seiner bedeutenden Rolle als Verbindung zwischen Europa und Asien. Durch den Suezkanal bekam der Handel einen neuen Seeweg nach Osten, der viel kürzer als der um Afrika war. Die kolossalen Pläne des Eisenbahnausbaues von Europa über Vorderasien weiter nach Osten beschnitten nicht nur die wirtschaftlichen Interessen der interessierten Staaten, sondern drohten auch, die politischen Kräfteverhältnisse und Einflüsse in Asien zu ändern. Die Eisenbahn von Bagdad, zum Beispiel, um die sich heute Deutschland und England streiten, nannte ein Autor eine "Achse, um die sich das politische Leben Europas abspielt". Jede Veränderung wird zu einer Gefahr für die erlangten Besitztümer, parallel dazu wächst natürlich das Interesse des imperialistischen Europa an jeder noch so kleinen Veränderung in dieser Gegend.

 

2. Österreich-Ungarn und Italien

In der Zeit, als der Handel mit dem Orient in den italienischen Stadtstaaten konzentriert war, galt das Mittelmeer als ein großer natürlicher Kanal, wo sich der Welthandel abspielte und große Reichtümer flossen. Mit dem Bedeutungsverlust dieser Städte im Handel zwischen Europa und dem Orient begann der Welthandel das Mittelmeer zu umgehen.

Wenn es auch seine alte Rolle im Welthandel verlor, war die Adria doch von immer größerer Bedeutung für zwei Großmächte, die an seine Küsten grenzten, Öster-reich-Ungarn und Italien. Für diese zwei Staaten war es nicht mehr nur der Weg des Handels mit der übrigen Welt zur See, sondern auch Grundlage ihrer Seemacht, die im jetzigen Zeitalter der kolonialen Eroberungspolitik und großer Interessens-konflikte die Macht und den Einfluss der kapitalistischen Staaten bestimmt. Jede Veränderung an den Adriaküsten trifft somit das Herzstück der politischen Pläne des Kapitalismus und der Herrscherkreise dieser Staaten.

Diese Veränderung kann zugunsten eines Dritten oder auch einer dieser zwei Staaten gehen. Demnach ist die gegenseitige Beziehung dieser zwei kapitalistischen Mächte zweideutig: Bis Mittag kämpfen sie gemeinsam gegen jeden, der ihren gemeinsamen Besitz gefährdet, danach kämpfen sie untereinander wie zwei Wettkämpfer, die voreinander zurückschrecken. Das gegenseitige Misstrauen, das der "Feindschaft" und den Beziehungen dieser zwei Verbündeten – beide sind Mitglieder des Dreibundes – eine spezielle Note verleiht, begleitet ihre Balkan-politik, und in Albanien verwandelt es sich in einen ständigen Konflikt. Während die Diplomaten beider Staaten Erklärungen über "vollste Übereinstimmung" und "gegenseitiges Vertrauen" austauschen, bringen sich ihre Agenten um, sie kämpfen um jede Schule, Diözese, jedes Dorf, jeden Ort der Ausbeutung und des Einflusses.

Österreich-Ungarn hat den Vorteil, dass es seinen Einfluss an der Adriaküste des Balkan schon zu sichern begann, bevor Italien überhaupt eine Großmacht wurde. Als sich Österreich-Ungarn an den Küsten Dalmatiens festsetzte, war Italien selbst Opfer von Eroberungsinteressen anderer. Der Großteil der italienischen Länder war gerade zu Anfang des vorigen Jahrhunderts im Besitz Österreich-Ungarns, das sich selbst als Nachfahre der italienischen Städterepubliken sah. Damals erlebte Triest einen Aufschwung, später dann Fiume. Schon seinerzeit glaubte man, der einzige legitime Nachfolger der türkischen Gebiete in der westlichen Hälfte der Balkan-halbinsel zu sein, und im bekannten Abkommen mit Russland über eine Aufteilung der Türkei sollte Österreich-Ungarn Serbien, Bosnien-Herzegowina und Albanien bekommen. Als sich dann aber in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts zwei neue nationale Großmächte bildeten, Deutschland und Italien, wurden die Be-ziehungen Österrreich-Ungarns zu den nördlichen und westlichen Staaten abge-brochen, es wurde auf den Balkan abgedrängt, dort teilte ihm Bismarck dann alle Gebiete "von der Grenze des rumänischen Volkes bis zur Bucht von Kotor" zu.

Das erste Resultat der neuen österreichisch-ungarischen Politik war die Okkupation Bosniens und Herzegowinas, die mit Russland heimlich vereinbart wurde. Das ist gleichzeitig der größte praktische Erfolg Österreich-Ungarns auf dem Balkan. Dieser Erfolg gelang Österreich-Ungarn zu einer Zeit, als das junge Italien noch an die afrikanische Küste drängte. Als Ersatz für Tunesien, das sich die Franzosen 1884 endgültig unter den Nagel rissen, versuchte Italien, Abessinien zu erobern; allerdings endete der Versuch nach zehn Jahren verzweifelter militärischer An-strengungen und finanziellen Ruins 1896 mit der totalen Niederlage Italiens. Durch die Niederlagen auf allen Seiten war das Land, das mit hart verdienten Geldern seiner Auswanderer in Amerika eine imperialistische Politik führen wollte, sozu-sagen gezwungen, einen Ersatz an den Küsten der Adria zu suchen. Die Verschwä-gerung mit der montenegrinischen Herrscherdynastie ist ein Zeichen für ein koloniales Programm.

Die Entwicklung der Großindustrie brachte für Österreich-Ungarn und Italien kolossale Fortschritte. Hatte einst, während der Okkupation Bosniens und Herzegowinas, die liberale Intelligenz, zusammengesetzt aus Professoren und Anwälten, die in Wien die Volksmehrheit im Parlament vertraten, das Mandat des Berliner Kongresses als "teures und fatales Abenteuer" bezeichnet, so wird heutzutage die Macht des Staates immer mehr in den Dienst des Kapitals gestellt und seines Strebens nach Erweiterung und Monopolisierung der Märkte für seine Waren und der Gebiete, um die Waren zu plazieren. "Die internationale Politik allgemein", schreibt die Wiener Presse 1908, "verwandelt sich zunehmend in eine Handels- und Wirtschaftspolitik, wichtige Fragen, die die Kabinette und die Völker beschäftigen, haben ihre Wurzeln in der Wirtschaft."

Während einerseits die anderen kapitalistischen Staaten versuchten, das Streben ihrer Wirtschaftssysteme durch Eroberung von Überseekolonien zu realisieren, schenkte Österreich-Ungarn dem Balkan seine ganze Aufmerksamkeit. Der Meinung österreichisch-ungarischer Regierender nach sind die Länder des Balkan gerade zu prädestiniert, Kolonien von Österreich-Ungarn zu sein, Saloniki, das Rohrbach "das absolute Ziel der österreichischen Balkanpolitik" nannte, sah man immer mehr als südlichen Hafen der Monarchie an. Die Regierungskreise in Wien und [Buda-] Pest zeigten zunehmend größere Sensibilität hinsichtlich jeglicher Veränderung in den Gebieten, durch die der Weg nach Saloniki führte, außerdem versuchte man hinsichtlich der eigenen Pläne, den ungünstigen Bedingungen am Balkan zuvorzukommen. Dieses Streben bestimmte auch die Haltung Österreich-Ungarns in langjährigen erfolglosen Versuchen der europäischen Politik, in Makedonien Reformen durchzuführen; das bestimmte ebenso seine Haltung Serbien gegenüber; Serbien war auch das Ziel neuer Eisenbahnprojekte, die vor einigen Jahren einen Sturm an Protesten und eine ganze Reihe neuer Gegenprojekte auslöste.

Die Geschichte der Diplomatie wird zeigen, wie sich Italien diesen Bestrebungen des "Verbündeten" gegenüber verhalten wird. Mit welcher Hartnäckigkeit es doch die kolonialen Eroberungen der Balkangebiete an der Adria verfolgte, zeigen seine Erfolge in Montenegro. In diesem kleinen Land, mit 250.000 Armen, riss es den Hafen Bar, die Eisenbahnlinie Bar-Virpazar, später auch die Schifffahrt auf dem Skadarsee und das Tabakmonopol an sich. Die Helden Montenegros, die nicht einmal von den Türken aus ihrem Karst vertrieben werden konnten, unterlagen der Macht des Kapitals, und so arbeiten sie heutzutage in den amerikanischen Berg-werken für die italienischen kapitalistischen Gesellschaften und deren monte-negrinische Vasallen.

Im Wettkampf Österreich-Ungarns und Italiens um koloniale Eroberungen am Balkan war Albanien das Land, in dem sich die Lanzen unmittelbar brachen. Die Propaganda beider Seiten versuchte mit allen Mitteln, sich gegenseitig den Boden unter den Füßen wegzuziehen. Damit der Interessenskonflikt in Albanien aber die Beziehungen der "Verbündeten" nicht gefährdete, mit denen andere wichtige Interessen verbunden waren, gelang es der Diplomatie, durch Teilung der Interessenssphären die Spannungen beizulegen. Die Teilung sah vor, dass Österreich-Ungarn seine Arbeit auf das nördliche, Italien auf das südliche Albanien konzentrierte. Die großen kapitalistischen Mächte einigten sich einmal mehr darüber, kleine Völker in den Würgegriff zu nehmen und ihre Länder aufzuteilen. Als vor dem ersten Balkankrieg der Plan des Prof. Berthold über die Schaffung eines autonomen Gebietes von den bosnischen Grenzen bis hin nach Saloniki scheiterte, als die "politische Meeresenge" zwischen Serbien und Montenegro ver-schwand und damit der einzige Weg nach Süden zu Land unterbrochen war, führte der Weg nach Saloniki nicht mehr über Mitrovica sondern eben über Durres. Ein autonomes Albanien war also nun für beide von Interesse, weil kein Dritter mehr an die Adria konnte und beiden ein Türchen für die Verwirklichung ihrer alten Balkan-politik offenstand. Vom Standpunkt bereits bestehender Bestrebungen kapitali-stischer Eroberungsfaktoren aus betrachtet, ist es vollkommen natürlich, dass die ganze Autorität Österreich-Ungarns und Italiens dafür eingesetzt wurde.

 

3. Die Adria und der Balkan

Die großen Auseinandersetzungen der europäischen Staaten im Osten waren einige Jahrhunderte lang Kernpunkt der Orientfrage. Da die Balkanhalbinsel in diese Kämpfe und Eroberungspläne der interessierten Staaten mit hineingezogen wurde, handelte es sich um wechselhafte Phasen des Kampfes, die unzertrennlich mit dem Schicksal der Balkanvölker verbunden sind. Nicht nur, dass sich die türkische Vorherrschaft in Europa, wie es der französische Philosoph Montesquieu schon vor 150 Jahren formuliert hatte, durch die Grausamkeit der Konkurrenten aufrechterhielt, auch die allmähliche Verdrängung dieser Herrschaft, die Entstehung unabhängiger Balkanstaaten und ihre Grenzziehung standen unter dem Einfluss dieser Konkurrenz und der Eroberungsbestrebungen und -pläne der Großmächte.

Diese Erkenntnis ist am Balkan heutzutage sehr populär, allerdings führt das dazu, dass man immer weniger über den Einfluss des Handelsverkehrs des Westens mit dem Orient auf die Balkanvölker Bescheid wusste und dem Rechnung trug.

Die Grundlage für all das, für das Wirtschafts- und Handelsleben am Balkan, war die Adria. Entlang ihrer Balkanküsten waren einige Punkte, von wo die wichtigsten Verkehrsverbindungen der Halbinsel mit der übrigen Welt ausgingen. Um diese Punkte herum bildeten sich Handelszentren. Zur Blütezeit der italienischen Stadtstaaten, als in dem langen natürlichen Kanal, der Adria, der ganze kolossale Verkehr zwischen Ost und West floss, waren die Zentren natürliche Stationen des Welthandelsverkehrs, die viel Reiz und Anziehungskraft auf die Adeligen der mittelalterlichen Balkanländer, vor allem Serbiens, ausübten. Mehrere bedeutende Handelswege gingen von diesen Punkten aus mühevoll über Gebirgsketten in das Innere der Halbinsel, aber der Verkehr floss auch in die andere Richtung: Der mittelalterliche Landadel placierte seine Überschüsse aus dem feudalen Tribut auf dem Markt, importierte östliche Luxusgüter, die die Phantasie unserer Volkspoeten anregten. Der Austausch erfolgte in den Zentren am Meer.

Unter diesen Zentren tun sich besonders an der Nordküste Dubrovnik, Kotor und Bar, im Süden Shkodra, Durres und Vlore hervor. Aus den Werken von Jirecko und Cvijic erfahren wir, dass aus Dubrovnik ein Weg über den Berg Cemerno an der Drina, Uzice, Cacak und weiter, und eine Weggabelung nach Plevlje, Novi Pazar und Toplica nach Nis führte. Die südlichen Routen waren viel schmäler. Es gab drei wichtige: die nördliche ging von Shkodra entlang des Weissen Drin nach Prizren und in den Kosovo; die mittlere, die sogenannte Via Egnatia, war die wichtigste Route, sie führte von Durres nach Konstantinopel; die südliche hatte ihren Ausgangspunkt in Valona und führte entlang des Devolli über Kastoria nach Makedonien und Thessalien.

Hand in Hand mit den Handels- und Wirtschaftsbeziehungen gingen auch die politischen Bestrebungen. Soweit mir bekannt ist, erlaubte es die gewohnte Archivarbeitsmethode unserer Geschichtswissenschaft nicht, den großen Einfluss, den die Handelsbeziehungen der Adria mit der Halbinsel auf die mittelalterliche Geschichte des serbischen Volkes hatte, zu erkennen. Mir scheint aber, dass sich selbst dem Laien die folgende Schlussfolgerung aufdrängt: dass zu der Zeit die Adria der Gravitationspunkt war – nicht nur im Handels-, sondern auch im politischen Leben des serbischen Volkes. Nur durch diesen Einfluss kann erklärt werden, warum sich im Mittelalter das lebhafte politische Leben gerade in den Adriaregionen abspielte, also in jenen Ländern, die nicht im Zentrum, sondern an der westlichen Grenze unserer ethnographischen Ausdehnung lagen. Mit der Gravitation der Adria verschob sich natürlich auch diese Grenze unseres Volks-elementes.

Alle Anstrengungen der serbischen mittelalterlichen Herrscher, sich an der Adria festzusetzen, blieben erfolglos, denn sie stießen auf den Widerstand stärkerer Mitstreiter, zuerst der italienischen Städte und der Madjaren, später der Franzosen, Italiener und Österreicher. Im Mittelalter war der einzige Ausgang zum Meer, den der serbische Staat hatte, der von Zahum. Er verlor ihn jedoch bereits Anfang des 14. Jahrhunderts im Kampf mit den bosnischen Bans, die Vasallen ihrer nördlichen Nachbarn waren. Es gelang den Serben nie wieder, ihn zurückzuerobern.

Nach der erwähnten Abänderung der Richtung des Welthandels vom Mittelmeer zum Atlantischen Ozean verlor die Adria ihre Bedeutung für den Welthandel. Das Handelsleben an ihrer Balkanküste erlosch nicht. Die alten Verkehrswege ver-ödeten nicht. Der Reichtum der Balkanländer und deren relativ gut entwickelte mittelalterliche Kultur gaben genügend Nahrung für die Erhaltung der alten Kommunikation ab. Aber als Resultat der Änderung des Handelsverkehrs wurden die Handelszentren an der Balkanküste der Adria zunehmend zu lokalen Punkten, die ausschließlich mit den Balkanländern zusammenarbeiten. Bis in neuere Zeit, bis vor einigen Jahrzehnten, gelangten noch unzählige Karawanen aus dem Landes-inneren nach Dubrovnik, Kotor, Bar, Shkodra und Durres.

Das, was die türkische Invasion und der Fall der italienischen Städte nicht geschafft hatten, kam dann als Folge des Handelsverkehrs und politischer Wenden. Die Handelszentren an der Adria bekamen gefährliche Konkurrenten im Norden und Süden. Mit dem wirtschaftlichen Aufstieg des mittelalterlichen Europa begann sich das kulturelle Leben Serbiens nach Norden zu wenden, zu den Märkten Mitteleuropas. Die Wirtschaftsgrundlage der nördlichen Balkanländer war nicht mehr die Adria, sondern wurden Save und Donau. Diese Wende musste unweiger-lich auch einen Einfluss auf die Entstehung des serbischen Aufstandes haben. Seit Mitteleuropa durch Eisenbahnverbindungen mit Saloniki und Konstantinopel verbunden ist, fließt der Handelsverkehr der Balkanhalbinsel nicht mehr transversal, aus dem Inneren zur Adria, sondern longitudinal, aus dem Inneren nach Saloniki im Süden und Pest und weiter nach Norden. Um die Veränderung zu Ende zu führen, um die Handelswege zu verwüsten und damit die alten Zentren am Mittelmeer jede Verbindung zur Halbinsel verlieren, darauf wirkten die politischen Veränderungen ein, in erster Linie die Okkupation Bosnien-Herzegowinas und die oftmalige Veränderung der politischen Grenzen.

Die Richtungsänderung des Handelsverkehrs verschob auf der Halbinsel das Zentrum des politischen Leben des serbischen Volkes nach Norden. Seine Handelsbeziehungen mit der Adria wurden, mit Ausnahme des engen Küsten-streifens von Montenegro, vollkommen durchtrennt. Damit kam es auch zum Abbruch des kulturellen Einflusses und des nationalen Vordringens in Küsten-gebiete. Anstelle dessen wird der Prozess umgekehrt: Das serbische Element zieht sich nach Nordosten, tiefer ins Landesinnere und näher zur nördlichen Grenze hin zurück, lässt in den alten Gebieten alte serbische Denkmäler zurück, inmitten eines Gebietes, das nun ausschließlich oder überwiegend vom albanischen Element be-herrscht wird.

Als im Handelsverkehr der westlichen Hälfte der Balkanhalbinsel die Richtung Nord-Süd entscheidend überwog, fiel Serbien in völlige wirtschaftliche Abhängig-keit von Österreich-Ungarn. Einige Jahrzehnte war Serbien in wirtschaftlicher Hinsicht in Wirklichkeit ein Zusatz des österreichisch-ungarischen Wirtschafts-bereiches, seine südlichste Provinz. Im Handelsverkehr Serbiens mit dem Ausland, der sich in der Ausfuhr von landwirtschaftlichen Erzeugnissen für die Einfuhr von Fabriksgütern äußerte, war Österreich-Ungarn die Welt. Aber wie sehr sich dieses Verhältnis im Laufe der Zeit an das Wirtschaftsleben des Schwächeren anklammern mag, es endet, früher oder später, mit einem Konflikt, der die unvermeidbare Folge der kapitalistischen Entwicklung ist. Während des Zollkrieges, der – von einigen kurzen Unterbrechungen abgesehen – bis kurz vor den Balkankrieg andauerte, standen sich beide Seiten mit neuen Ansprüchen gegenüber: Österreich-Ungarn, das den eigenen Bauern die Konkurrenz serbischen Viehs vom Hals schaffen und gleichzeitig auf den serbischen Märkten enorme Begünstigungen für seine Industrie wollte, stand Serbien gegenüber, mit der Absicht, die Ausfuhr seiner Agrarprodukte zu garantieren und, gleichzeitig, die heimische Industrie zu schützen. Der Konflikt war unausweichlich.

Die politische Bedeutung dieses Konfliktes liegt darin, dass es der Bourgeoisie gelang, ihre Bestrebungen hinsichtlich eines Zuganges zur Adria zu verwirklichen und in die Volksmassen hineinzutragen. Die Verwirklichung dessen wurde nun zum wichtigsten Ziel der serbischen Politik. Für das Regime der Bourgeoisie war der freie Zugang zum Meer mehr als eine Handelsfrage; das war, wie wir später noch sehen werden, der Lebensnerv, von dem das ganze Wirtschafts- und Finanzsystem der Bourgeoisie abhing, ein zusätzlicher Kredit, das Überleben des Regimes. Als während der Annexionskrise Milovanovic´ Vorschlag über "den Zugang zum Meer" durchfiel, arbeitete man fieberhaft daran, eine Lizenz für den Bau einer Adriaeisenbahn zu erhalten. Nach dem Sieg bei Kumanovo und Bitola, als die Türkei aus den Gebieten verdrängt wurde, über die der Weg zu beiden Meeren, der Adria und Ägäis, führte, war der serbische Zugang zum Meer bereits halb verwirklicht.

Wie fasste aber die serbische Regierung die Ausführung dieser Aufgabe auf?

 

 

IV. Serbien und Albanien

1. Eroberungstendenzen unserer Bourgeoisie

Österreich-Ungarn und Italien setzen sich für die Autonomie Albaniens in ihrem Interesse ein, nicht im Interesse des albanischen Volkes! Das ist der zweite Grund-gedanke von Balkanicus und Dr. Vladan, und um das zu bestätigen, führen sie hunderte Zitate aus allen möglichen Büchern und Zeitungen an. In dieser langen Bibliographie war selbst die Presse der Sozialdemokratie vertreten!

Stünden diese Herrschaften den Idealen der Sozialdemokratie einiges näher, wären sie jetzt nicht in dieser absurden Lage: Während sie gegen die Eroberungspolitik Österreich-Ungarns und Italiens kämpfen, empfehlen und verteidigen sie gleich-zeitig die Eroberungspolitik Serbiens. Ihr Standpunkt ist sehr einfach: Albanien soll unterworfen werden, wenn es ihm schon vorherbestimmt ist, dann ist es besser, Serbien ist der Eroberer, nicht die beiden Großmächte. Wir sind nicht gegen die Eroberung Albaniens, sagen Balkanicus und Dr. Vladan, wir verlangen nur, dass der Eroberer Albaniens niemand anderer außer uns ist. Mit anderen Worten: Wir stehen im Namen einer Eroberungspolitik gegen eine andere Eroberungspolitik auf; das Recht, das wir anderen absprechen, sprechen wir uns selbst im gleichen Moment und in der gleichen Frage zu. Und die Gründe für einen Anspruch Serbiens sind gewaltig! Balkanicus schreibt:

"Woher diese Ausnahme und dieses Privileg für Albaner, sie könnten und dürften nicht einmal teilweise unter die Herrschaft der Serben kommen? Ist nicht das serbische Volk auf viele Administrationen und staatliche Institutionen aufgeteilt? Man muss nur einen Blick auf Österreich-Ungarn werfen: Serben leben unter einer Verwaltung in Bosnien und Herzegowina, in Ungarn unter einer anderen, in Kroatien unter einer dritten, in Dalmatien unter einer vierten.

Wenn ein Teil der Türken unter bulgarischer und serbischen Herrschaft bleibt, dann wird auch Hr. Dervis Hima zulassen, dass die Albaner das auch können, um so eher, als sie schon immer unter fremder Herrschaft standen, sie in den Gebieten, die sie jetzt, mit Hilfe ihrer interessierten Protektoren, von den Serben wegnehmen und von Europa fordern wollen, oder mit Hilfe krimineller Eindringlinge, oder sie schon seit langer Zeit mit den Serben vermischt sind, wie z. B. in der Nähe von Shkodra und an der montenegrinischen Grenze."

Um uns heute davon zu überzeugen, wie radikal diese Lösung sei, die Europa schlussendlich nicht mehr lästig wäre, führt Dr. Vladan folgende Erläuterungen an:

"Europa sollte diese Möglichkeit bereitwillig annehmen, diese undisziplinierten Leute zwischen Serbien, Griechenland und Montenegro aufzuteilen. Die Arnauten werden sich, nachdem sie von Konstantinopel, das sie immer verwöhnte, im Stich gelassen und in die Grenzen des Verstandes gewiesen wurden, sehr schnell mit ihrem Schicksal abfinden. Auf jeden Fall betrifft ihre Anpassung nur sie und ihre neuen Herrscher. Die Albanische Frage, in viele Teile zerstückelt und dadurch bedeutend kleiner, würde Europa keine Kopfschmerzen mehr bereiten."

In Albanien verfolgen Österreich-Ungarn und Italien eine Eroberungspolitik, das ist Tatsache. Aber glauben denn Balkanicus und Dr. Vladan, jemand könnte etwas anderes denken? Sollten die nationalen Prinzipien Österreich-Ungarn schützen, das auf Verneinung nationaler Grundsätze beruht, oder Italien, das gerade in unserer Zeit ein anderes Volk jenseits des Mittelmeeres im Würgegriff hat? Im Zeitalter imperialistischer Politik stehen solche Parolen selbst diesen beiden kapitalistischen Staaten schlecht, ebenso verhielt es sich mit der Parole des zaristischen Russland einer "Befreiung der Christen" in der Türkei, das der größte Scharfrichter von Freiheit im Lande selbst und in der Nachbarschaft war. Diese politischen Lügen lassen nicht einmal mehr die Balkanvölker durchgehen, die bereits die große Erfahrung machten, dass sie jedes Zusammengehen mit diesem oder jenem "Beschützer" um so mehr Opfer kostete, als sie sich diesen, in ihrem unermess-lichen Verlangen nach Befreiung vom türkischen Joch, stärker auslieferten. Auch jene Elemente, die in Albanien für die Autonomie ihres Landes tätig sind, wissen von diesen Lügen.

Eine der hervorragendsten Persönlichkeiten in Elbasan, die später zum Gouverneur des Ortes gewählt wurde, scheute sich nicht, mir klar und offen auf meine Frage zu antworten: Österreich-Ungarn setze sich für den Verbleib Shkodras bei Albanien ein, damit die Stadt weiterhin der nördlichste tote Wachposten gegen das Vor-dringen Serbiens und Montenegros in seine Einflusssphäre bleibe, so wie sich auch Italien für Südalbanien einsetze, damit sich niemand anderer jenseits des Golfes von Taranto festsetze. Die unnachgiebige Position Österreich-Ungarns und Italiens zur Autonomie Albaniens sei der Versuch, das letzte Stückchen Erde, von dem aus man sich gegen fremdes Vordringen in die Adria schütze und den Lauf der Dinge am Balkan mitbestimme, zu retten. Österreich-Ungarn möchte weiterhin ein "lebens-fähiges Albanien", zu einem Zeitpunkt, in dem man die Gefahr erkenne, dass Serbien nicht lebensfähig sei. Die Absichten dieser Politik seien sonnenklar. Man möchte um jeden Preis einen neuen, lebensunfähigen Pygmäen am Balkan, damit ein anderer Pygmäe, der alle Anstrengungen unternehme, die Fesseln loszu-werden, nicht doch lebensfähig werde. Das könnte Methode zur Schaffung Schwächerer, Lebensunfähiger genannt werden, die dazu verdammt sind, vom Schoß der europäischen Diplomatie abzuhängen, ganz gleich, ob die Methode unter der falschen Etikette "nationale Grundsätze" oder "politisches Gleichgewicht" auftrete.

Wenn Balkanicus und Dr. Vladan, indem sie die Eroberungsabsichten Österreich-Ungarns und Italiens in Albanien hervorheben, nichts Neues gesagt haben, nichts, das nicht sowieso schon in den breiteren Schichten unseres Volkes bekannt ist, sind sie dadurch, dass sie Serbien das Recht auf eine Eroberung Albaniens zusprechen, getreuer Ausdruck einer neuen Politik Serbiens. Durch Verfälschung der Eroberungspolitik dieser beider Staaten gelang es ihnen, die "nationale" Politik Serbiens, die "Befreiungspolitik" der serbischen Bourgeoisie zu verfälschen. Denn wenn die Sorge der österreichischen Regierenden dem Recht aller Balkanvölker auf nationale Selbstbestimmung gilt, ist das ein übler Scherz mit nationalen Prinzipien, und dann sind auch die Absichten Serbiens Albanien zu erobern, ein grober Verstoß gegen diese Prinzipien.

Die serbische Bourgeoisie, die diese Politik proklamierte, lüftet nun erstmals den Schleier einer angeblich unterdrückten Nation, die für ihre Befreiung kämpft, vor dem Angesicht des serbischen Volkes. Bei unserer Bourgeoisie sind die Erinnerungen an die einstigen Ideale von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit verblasst; damit verschwand auch die Fähigkeit, Freiheitsbestrebungen des Volkes zu schätzen. Die Bourgeoisie weicht vor dem Druck des nördlichen Nachbarn, ist vollkommen abhängig vom Schoß der russischen Diplomatie, die Regierungsmittel leiht sie sich von ausländischen kapitalistischen Handelsgesellschaften, sie eignete sich die Ideologie eines Ausbeuters und Herrschers an, der sich selbst an der Spitze einer hungernden Armee als Herrscher einiger Millionen von Untergebenen sieht, von Größe träumt, übel gelaunt ist, nur an die Macht appelliert und den Schwächeren die Kehle zuschnürt, wobei sie, die Bourgeoisie, selbst Gefahr läuft, von Stärkeren erdrosselt zu werden. Die Tatsache, dass es zur politischen Wende unserer Bourgeoisie kam, was früher oder später unweigerlich als Folge kapitali-stischer Produktion sowieso geschehen wäre, bevor das serbische Volk überhaupt national vereint war – dass die Herrscher in Serbien durch die politische Zer-stückelung und Unterwerfung ihres eigenen Volkes nun auch ihr Verlangen nach Unterdrückung anderer Völker rechtfertigen -, ist nur ein Beweis mehr dafür, dass die kapitalistische Profitwirtschaft und militärisch-bürokratische Staatssysteme der Bourgeoisie bei kleinen und großen Vertretern der heutigen Gesellschaftsordnung gleiche Gier in und außerhalb des Landes, in Außen- und Innenpolitik hervorrufen.

Dieser neue Kurs in der Politik der serbischen Bourgeoisie hat für die Sozialdemokratie mehr als nur theoretische Bedeutung. Er ist nicht nur eine Bestätigung für unseren Standpunkt, dass die nationalen Ideale der herrschenden Klassen eine Lüge sind, hinter der sich die Absicht verbirgt, das Volk im eigenen Land auszubeuten und fremde Völker zu unterwerfen. Die nationale Befreiung und Vereinigung, die sie für ihr Volk verlangen, verwehrt die kapitalistische Bourge-oisie fremden Völkern. Von ihrem Klassenstandpunkt aus gesehen, ist das durchaus natürlich und verständlich: wenn unter meiner Klassenherrschaft mein ganzes unterdrücktes Volk steht, warum wollt ihr "wilden" Albaner euch dann nicht auch in ein fertiges, nach allen Vorschriften des modernen Staates organisiertes System der Unterwürfigkeit fügen?! Die Außenpolitik der herrschenden Klasse ist bloß eine Erweiterung ihrer Innenpolitik. Und da für das Proletariat gilt, dass es die einzige Gesellschaftsklasse in einem Staat ist, die nicht für die Befreiung aus dem Klassen-system kämpfen kann, ohne die ganze Gesellschaft davon zu befreien, kann auch die Sozialdemokratie nicht eine Freiheit ihres Volkes vertreten, ohne sich für die nationale Befreiung aller anderen Völker einzusetzen. Darin besteht ein wesent-licher Unterschied zwischen den Auffassungen der Sozialdemokratie und der Bourgeoisie in der nationalen Frage.

Allerdings sollte uns die praktische Bedeutung dieser Frage um so mehr interes-sieren, als die Folge der Eroberungsfrage unserer Herrschenden eine unversiegbare Quelle nicht nur neuer Verbrechen gegen das albanische Volk, sondern ständiger Gefahren für den Frieden und die Zufriedenheit unseres Volkes darstellt, mit unabsehbaren Belastungen und Opfern. Serbien wurde in den Wirbel der Kämpfe aus Eroberungslust mit allen nur absehbaren und unabsehbaren Hindernissen und Strömungen hineingezogen, einen Wirbel, in dem die Volkskräfte, in vergeblicher Mühe das Ufer zu erreichen, nachlassen werden. Um jedes neue Hindernis aus dem Weg zu räumen, wird es immer größerer Anstrengungen bedürfen; und die stei-genden Opfer, die die Volksmassen bringen müssen, werden durch die bereits erbrachten gerechtfertigt. Der Eroberungsfeldzug in Albanien brachte Verbitterung und Widerstand auf Seiten der Albaner Serbien gegenüber hervor. Aufstände fordern neue finanzielle und militärische Anstrengungen. Die Unsicherheit an der neuen Westgrenze Serbiens ist Folge der Unterdrückungspolitik gegenüber dem albanischen Volk, sie ist auch der Grund für die ständige Mobilität der Armee; aus demselben Grund sind wir in Konflikt mit den stärkeren Prätendenten Albaniens; und in der Begeisterung über die eventuelle Gründung eines großen Adriastaates durch Unterjochung eines anderen Volkes mahnen die Herrschenden zu einer großen Abrechnung mit diesen in der Zukunft. Die Verschuldung des Landes, neue Staatslasten und der Militarismus sowie andere parasitäre Institutionen verlangen vom Volk, je nachdem, wie sehr ständige Unsicherheit, Kriegsgefahr und häufige Mobilmachungen ihm materiell die Kehle zuschnüren und es wirtschaftlich ruinieren, immer größere Opfer.

Auf diese Art und Weise werden die in Gang gekommen Ereignisse, einer inneren Logik zufolge, unser erschöpftes Land von Krise zu Krise führen, von Gefahr zu Gefahr, und alle Organe der Bourgeoisie, die die öffentliche Meinung bilden, werden sich darum kümmern, dass der wahre Grund dieses Unheils vergessen und die Verantwortung auf jemand anderen übertragen wird. Deshalb kann die Sozialdemokratie – als einziger entschiedener Gegner der Unterdrückungspolitik, die der Ursprung allen Übels ist – nicht zulassen, dass der Moment nicht vermerkt wird, in dem unsere Regierungskreise nach fremdem Land und fremder Freiheit langten, in dem die einstigen Herolde der nationalen Befreiung das Banner der nationalen Unterjochung ergriffen und die Interessen des Kapitals die Interessen der Nation verschlangen. Sie muss ständig auf den untrennbaren Zusammenhang zwischen der Unterdrückungspolitik der Bourgeoisie und den schweren Folgen und Opfern, deren Ende nicht absehbar ist, sowie auf den Zusammenhang zwischen den Theorien des Balkanicus und von Dr. Vladan mit der Praxis des Isa Boljetinac hinweisen.

 

2. Der Zugang zum Meer

Die Begeisterung, mit der die bürgerliche Meinung die erste Nachricht vom Zugang einer albanischen Einheit zur Adria vernahm, kam daher, dass man glaubte, nun jenes Ziel, das seit mehr als zehn Jahren sowohl der Regierung als auch der Bourgeoisie und der breiten Öffentlichkeit vorschwebte, erreicht zu haben. Dieses Serbien hatte nun Zugang zum Meer, und wie! Das, was man mit einer Eisenbahn an die Adria versucht hatte, erreichte man nun über eigenes Territorium; Serbien war jetzt Herrscher über seinen Verkehr mit der übrigen Welt!

Die Bestrebungen Serbiens, einen freien Zugang zum Meer zu bekommen, wurden für gewöhnlich mit den Hindernissen, die Österreich-Ungarn dem serbischen Export in den Weg legte, in Zusammenhang gebracht. Serbien ist nach wie vor vorwiegend ein Agrarstaat. Von seiner gesamten Ausfuhr, die 1910 die Ziffer von 98,388.028 Dinar erreichte, machten Rohstoffe fast 64, verarbeitete Produkte 36 Prozent aus. Mit der Ausnahme von 1,691.819 Dinar an Rohstoffen der Metallurgie und 10,320.817 Dinar an Verarbeitungsprodukten mit einigen hunderttausenden Industrieprodukten, machten Landwirtschafts- und insbesondere Viehzuchtprodukte und deren unmittelbare Verarbeitungen rund 88 Prozent aus. Der gesamte serbische Exporthandel ist größtenteils also von den bäuerlichen Betrieben abhängig, die zum überwiegenden Teil Kleinstbetriebe sind. Vom Exporthandel ist wiederum die Fähigkeit Serbiens, seinen Schuldnerverpflichtungen nachzukommen, abhängig.

Somit ist die Frage der Exportsicherung gemeinsames Anliegen zweier weit von-einander entfernter Welten geworden: der herrschenden Bourgeoisie und der Bauernmasse. Für die regierende Bourgeoisie bedeutet die Sicherung des Exportes gleichzeitig die Garantie der Steuereinnahmen, des Importes von Gold, das sie für die Rückzahlungen der Staatsschulden unbedingt benötigt. Jede Krise des Export-handels würde die empfindlichste Stelle einer Regierung treffen, denn dadurch wären die nötigen Mittel, um an der Macht zu bleiben, gefährdet. Aber jede Krise würde auch die empfindlichste Stelle der Bauernmasse treffen, denn die Preise für Agrarprodukte im Land würden erheblich fallen. Je mehr man den Bauern zwingt, seine Produkte billiger zu verkaufen, desto mehr muss er von seiner Ernte auf dem Markt placieren, um seine Geldbedürfnisse zu stillen, desto weniger bleibt ihm von seiner Ernte, um die Bedürfnisse seiner Familie zu befriedigen. Ein jeder Preis-verfall bedeutet für die breite Bevölkerungsmasse also noch größeren Hunger im Hause, größere Hypotheken auf den Feldern, weniger Vieh im Stall.

Als Österreich-Ungarn auf Druck seiner Agronomen begann, den nördlichen Weg für den serbischen Exporthandel zu sperren, bereitete das nicht nur der herr-schenden Bourgeoisie Kopfzerbrechen, sondern traf auch die empfindlichste Stelle der Bauernmassen. Die irren nationalen Gedanken sind immer mehr von wirtschaft-licher Bedeutung, nämlich die Befreiung Serbiens von der ökonomischen Ab-hängigkeit von Österreich-Ungarn und der freie Zugang zum Meer. In dieser Frage gelingt es der herrschenden Bourgeoisie, die breiten Volksmasssen für ihre nationale Politik zu gewinnen. Für diesen Erfolg sollte sie in erster Linie den Agronomen und Herrschern Österreich-Ungarns danken.

Allerdings kommt der Wunsch nach einem freien Zugang zum Meer nicht nur daher, dass man den Export von landwirtschaftlichen Produkten sichern will. Die Notwendigkeit der Gewährleistung des Exportes und die Hindernisse von Seiten Österreich-Ungarns führten dazu, dass sich auch die kleinbäuerliche Masse für einen Zugang zum Meer interessiert, die das zahlreichste Wähler- und Rekruten-potential im Land stellt, aber der Wunsch wurde um so unwiderstehlicher, je stärker bei uns die kapitalistische Warenwirtschaft war. In der territorialen Ausdehnung und dem Zugang zum Meer sah die Bourgeoisie das Ziel ihrer Klassenpolitik, das in der Industrialisierung des Landes und des Fortschrittes kapitalistischer Produktionsweise bestand. Aber dass man an der Verwirklichung dieses Zieles so entschieden, so fieberhaft, geradezu va banque, hopp oder tropp, arbeitete, ist nur jenem klar, der einsieht, dass darin die Rettung des gesamten Wirtschafts- und Finanzsystems der Bourgeoisie lag, worauf sich ihre Regierungsmacht stützte, und dass dies der einzige Ausweg aus der Situation war, die von Tag zu Tag kritischer wurde.

Serbien ist ein typischer Vertreter der kleinen Agrarstaaten mit primitiven Arbeitsgeräten und -methoden, aber zahlreichen, großen und komplexen Abhängig-keiten von Fremdkapital. Die anormale Entwicklung dieser kapitalistischen Ab-hängigkeiten der kleinen, in ihrer ökonomischen Entwicklung zurückgebliebenen Agrarstaaten zeigt, dass sie nicht durch Werkstätten und Fabriken von der kapitalistischen Wirtschaft bezwungen werden, von unten her, aus dem Wirtschafts-leben, sondern von Ministerialräten, von oben her, über die Staats- und nicht über die Privatwirtschaft. Die hohe Staatsschuld bestand, noch bevor man an der Entstehung von Produktionskräften arbeitete, die die Begleichung dieser Staats-schuld erleichtern würden. Zuerst kam eine Tötungsmaschine ins Land, dann eine Arbeitsmaschine.

Das Resultat dieser anormalen, umgekehrten Entwicklung war das Steigen des Staatsbudgets, ohne Rücksicht auf den volkswirtschaftlichen Ruin. Stärker noch als die Staatsbudgets stieg ihr Begleiter, die Verschuldung. Von 1880 bis 1910 stieg der Staatshaushalt von 20 auf 120 Millionen, oder um 475 Prozent, und die Verschuldung des Landes von 32 auf 735 Millionen, oder um 2.197 Prozent. Die Staatsverschuldung stieg also fünfmal höher an als das Budget. Allerdings zeigt diese kolossale Ziffer der Staatsverschuldung an sich nicht die Härte einer solchen Versklavung durch Schulden klar auf. Um die volle Härte dieser Entwicklung der Beziehung zwischen Serbien und dem Fremdkapitalismus zu spüren, darf man die Tatsache nicht aus den Augen lassen, dass der Gesamtanstieg des Staatshaushaltes von unproduktiven Ausgaben für die Schulden und das Heer verschlungen wurde, ebenso wie der größte Teil der Staatsanleihen, der weitaus größte Teil, für die Budgetdefizite und die außergewöhnlichen Militärausgaben herhalten musste.

Wodurch konnte sich diese Art von Verschwendung aufrechterhalten? Um seine Schulden begleichen zu können, kam Serbien über den Export von Agrarprodukten zu Goldreserven. Seit dem Ende der achtziger Jahre ist seine Handelsbilanz aktiv, d. h. es bringt eine größere Summe an Gold aus den Exporterlösen auf, als es für den Import aufwendet. Allerdings konnte der Überschuss an Gold, den die positive Handelsbilanz ergab, die Goldausfuhr für die Rückzahlungen der Schulden nicht ausgleichen. Deshalb ist auch die internationale Zahlungsbilanz Serbiens, entgegen der aktiven Handelsbilanz, noch immer passiv. In den letzten dreißig Jahren musste Serbien immer mehr Gold ausgeben, als es aus seinem Export einnahm. Die Differenz betrug von 1891 bis 1900 49,354.772 Dinar, von 1901 bis 1910 71,153.924 Dinar. Um dieses System des Bankrotthaushaltes aufrechtzuerhalten, stürzte sich Serbien in immer höhere Schulden, schob damit den Bankrott auf und übertrug die Lasten seiner jetzigen Politik zunehmend auf zukünftige Generationen.

Wie lange soll das noch so weitergehen? Unter dem Druck der Staatslasten stieg der Export zwar an, aber hinter diesem Anstieg steht nicht die Stärkung der Wirtschaftskraft des Landes. Ganz im Gegenteil, dieses Exportwachstum ist die Folge der höheren Staatslasten, nicht der ökonomischen Entwicklung und der Stärkung des Landes. Es ist die Folge von Ausbeutung, die jeden Produzenten einzeln trifft, die ihn dazu drängt, zwecks seiner Steuerschulden die Nahrung für seine Familie und die Produktionsmittel zu veräußern, und es entkräftet auch die gesamte Produktionskraft des Landes, denn die für eine ökonomische Stärkung nötigen Mittel werden durch fremdes Ausbeuterkapital abgeschöpft. Im stärkeren Wachstum des Exports als des Imports spiegelt sich auf keinen Fall das Wachstum der Produktion des Landes durch die Entwicklung kultureller Bedürfnisse des Volkes wider, sondern, in Wirklichkeit, ein künstliches Exportwachstum auf Kosten der Fähigkeit des Volkes, seine Lebensbedürfnisse zu befriedigen.

Aber das Volk, das immer weniger konsumieren kann, wird immer mehr zu einem ungewissen Steuerzahler. Die herrschende Bourgeoisie erfuhr, dass selbst das skandalöseste System mittelbarer Steuern, das jeden Lebensbedarf belastet, nie ein sicherer Garant für die Steuereinnahmen eines Landes ist, wenn es die Konsumkraft der Masse schwächt oder diese sich langsamer und schwächer entwickelt, als die Staatsbedürfnisse wachsen. Selbst die Perfektion der Pumpe für Steuereinnahmen kann das nicht ersetzen, was durch die Ausbeutung des Allgemeinreservoirs staatlicher Einnahmen, durch Erschöpfung der Volkswirtschaft, verloren geht. Noch einmal zeigt sich somit demonstrativ die Richtigkeit des Grundsatzes, dass die Wirtschaftskraft eines Landes die einzig richtige Basis sicherer Staatseinnahmen und einer guten Finanzlage ist. Aber wo ist nun diese Wirtschaftskraft des Landes? Liegt sie in den ruinierten kleinbäuerlichen Wirtschaftseinheiten? Das Land ist vollkommen ausgeblutet, die Ernteerträge niedriger als in Russland, die Viehzucht im negativen Wachstum: Die kleinen Landwirtschaften sind nicht mehr in der Lage, ihre beschränkten Familienbedürfnisse zu stillen, noch weniger, die großen Staatskassen zu füllen. Das Staatsbudget wächst schnell, denn die Schulden-verpflichtungen und die Kosten des Regierungssystems der Bourgeoisie steigen, gleichzeitig geht aber der Glauben an das Exportwachstum der landwirtschaftlichen Erzeugnisse verloren.

In dieser ausweglosen Situation setzt die Bourgeoisie mit allen Mitteln, die ihr durch die Regierungsgewalt zur Verfügung stehen, auf einen künstlichen Aufbau der Industrie. Das System mittelbarer Steuern ergänzt sie nun durch ein System von "Schutzzöllen". Serbien ist von einer unüberwindbaren Zollmauer umgeben, unter deren Schutz das Kapital, absolut befreit von jeder Rücksichtsnahme auf fremde Konkurrenz, das Privileg unbegrenzter Herrschaft auf den heimischen Märkten genießt, sozusagen das Monopol auf Ausbeutung. In der Umsetzung dieser Politik muß die Regierung den unerbittlichen Kampf zwischen den Vertretern von fremdem und einheimischem Kapital regeln, aber am Ende siegt das System der "Schutz-zölle", denn es entspricht den Interessen der Bourgeoisie, die sowohl Träger der kapitalistischen Ausbeutung wie auch Träger der Staatsgewalt ist.

Durch dieses System garantiert diese Staatsgewalt einerseits der kapitalistischen Klasse einen Extraprofit, und andererseits bewirkt sie durch künstliches An-Land-Ziehen von Kapital, dass größere Geldsummen durch die Hände der Produzenten und Verbraucher fließen, die sie ihnen dann zu einem günstigen Zeitpunkt wieder in Form von indirekten Steuern abknöpfen wird. Durch das Fremdkapital im Land steigt der Geldverkehr, die Massen verbrauchen mehr, obwohl sie nicht mehr essen, aber dafür wachsen die Summen der Extraprofite der Kapitalistenklasse und der indirekten Steuereinnahmen des Landes, wächst auch die Ausbeutung des Proleta-riats und der Volksmassen. Das Ausmaß dieser Ausbeutung spiegelt sich in der abnormal großen Differenz von nominalen und realen Taglöhnen wider, im Geldwert der Taglöhne und der Menge an Lebensmitteln, die man dafür kaufen kann.

Es ist sehr auffällig, dass sich dieses System des heimischen Produktionswachstums in ein System der ökonomischen Ausbeutung des Landes verwandelt. Durch hohe Preise aller Produkte schmälert man die Kaufkraft des Volkes, die ansonsten die erste gesunde Voraussetzung wirtschaftlichen Fortschritts ist, und durch Monopol-privilegien verhindert man das Bemühen um technische Vervollkommnung der Arbeit, ohne die man sich die Wirtschaftskraft eines Landes gar nicht vorstellen kann. Diese Betrachtungen sind jedoch nicht Gegenstand dieses Buches. Statt dessen sollte man besonders betonen, dass auf dem ökonomischen Finanzsystem, das wir in Kürze skizziert haben, sowohl die wirtschaftliche Existenz als auch die Regierungspolitik der Bourgeoisie in Serbien beruhen.

Aufgrund dieser Wirtschafts- und Finanzlage des Landes und der ständigen Sorgen jeder Regierung kann man erklären, warum Serbien versucht, um jeden Preis die alten Grenzen zu überschreiten und ans Meer zu gelangen, trotz aller großen Gefahren und Opfer. Mit der industriellen Entwicklung eines Landes drängt die Bourgeoisie die Regierungen, Märkte und Ausbeutungsgebiete zu erweitern. Die Politik der Unterjochung fremder Länder und der kolonialen Eroberung, die zur Spaltung Europas in zwei Lager führte, entspricht den Bestrebungen der Kapitalistenklassen nach Profitsicherung und Ausbeutungsmonopolen. Jedes Mal, wenn wir auf diese ökonomischen Ursachen der heutigen fieberhaften Bewaffnung, der Interessenskonflikte und der kolonialen Eroberungspolitik hinwiesen, warfen uns die Verteidiger dieser Politik in Serbien vor: Wo ist denn in Serbien diese entwickelte Industrie, wo ist die kapitalistische Klasse, die zur Unterjochung anderer Völker aufruft?

Wir lassen gelten, dass die kapitalistische Industrie in Serbien nicht annähernd so entwickelt ist wie das Verlangen der herrschenden Bourgeoisie nach einer Er-weiterung des Territoriums und einem Zugang zum Meer, und zwar durch Unter-werfung fremder Völker. Die Regierung in Serbien ist jedoch um so eifriger bemüht, den Wünschen aller herrschenden Klassen und Kasten nach Ausdehnung der Grenzen und Unterwerfung fremder Völker nachzukommen, je mehr es den Notwendigkeiten des Finanzsystems entspricht, auf dem sie beruht und das der Eckpfeiler ihrer Herrschaft ist. Die Aufrechterhaltung dieses Systems ist der wichtigste Programmpunkt jeder Regierung. Darauf türmen sich Abermillionen an Staatsbudget auf; welches die zur Erhaltung des Militärs und anderer unproduktiver Institutionen und die für die Rückzahlung der Schulden ans Ausland nötigen Mittel bietet, und es gewährleistet auch Kredite, die zu neuer Verschuldung führen.

Wenn die kapitalistische Bourgeoisie in Serbien und den Balkanstaaten überhaupt noch nicht dermaßen weit entwickelt ist, um die gesamte Staatspolitik in den Dienst ihrer Interessen zu stellen, hat sie für ihren Verbündeten dennoch die Staatsgewalt, die zwecks Erhaltung an der Macht zu territorialer Erweiterung um jeden Preis drängt. Also sind die unwiderstehlichen Expansionsbestrebungen der Kleinstaaten am Balkan nun unaufhaltsamer Regierungsbedarf, einziger Ausweg aus der schwierigen Lage, in die sie sich durch ihr Wirtschafts- und Finanzsystem an den Rand des Bankrotts hineinmanövriert haben. Für die Bourgeoisie in Serbien bedeutet der Zugang zum Meer nicht in erster Linie die wirtschaftliche Emanzipation des Landes, die man gerne und häufig propagiert – denn die gesamte Wirtschafts- und Finanzpolitik der regierenden Bourgeoisie stellt eine beständige Veräußerung des Rechtes auf freie Verfügbarkeit der wirtschaftlichen Quellen des Landes und die Aushändigung des Volkes an die Zinssklaverei dar, um an die Mittel zur Erhaltung ihrer Herrschaft zu gelangen – sondern er bedeutet vor allem die Emanzipation des Wirtschafts- und Finanzsystems, auf dem ihre Macht beruht. Der Zugang zum Meer ist die einzige Möglichkeit, das Wirtschaftssystem der "Schutzzölle" von der Abhängigkeit vom Ausland zu befreien und niemandem irgendwelche Konzessionen machen zu müssen. Wenn die kapitalistische Bourgeoisie also der Aufgabe nicht gewachsen ist, einen entscheidenden Einfluss auf die Richtung der Staatspolitik zu üben, dann ist jede Regierung gezwungen, nicht mehr um die Opfer, die der Zugang zum Meer fordern wird, zu bangen, und das nicht nur aus Gründen des freien Handelsverkehrs mit der Welt, sondern auch aus Gründen des Verbleibens an der Macht. Deshalb meinte auch ein nationaler und patriotischer Schriftsteller mit seltener Aufrichtigkeit: Ein Krieg, der den freien Zugang der serbischen Waren zum Weltmarkt nicht garantiert, ist kein Befreiungs-krieg!

Also ist die Albanienpolitik der serbischen Regierung eine Verkörperung abenteuer-lichen Vagabundierens eines Verzweifelten, der ohne Aussicht auf Erfolg und ohne klares Ziel wertvolle Kraft vergeudet, um dem Bankrott zu entgehen, vor dem er sich mit seiner ganzen wirtschaftlichen und politischen Linie befindet.

 

3. Erfolglose Eroberungspolitik

Mit der [sogenannten] "wirtschaftlichen Emanzipationspolitik" wurde der [nationa-listische] Schwung der Volksmassen jahrelang vorbereitet und fand seinen Höhe-punkt mit dem Ausbruch des Zollkrieges bis hin zur Annexion Bosniens und der Herzegowina. Diesen Aufschwung machte sich die Bourgeoisie während der Balkankriege kräftig zu Nutze. Sie konnte bei den absurdesten Aktionen mit menschlichem Potential rechnen, dessen Opferbereitschaft militärisches Pflicht-bewusstsein bei weitem überstieg. In ihrem Bestreben, die Streitkräfte des Landes ständig bewaffnet zu halten, setzte sich die Bourgeoisie in der Zerstörung der Volkskräfte wegen menschlicher Verluste über alle Möglichkeiten hinweg und trieb in dümmster Weise Missbrauch. Der Versuch, durch eine Eroberung Albaniens sich Zugang zum Meer zu verschaffen, ist zweifellos der Höhepunkt dieser Art von Ausbeutung.

Für einen Zugang zum Meer standen Serbien zwei Wege offen. Erstens über Montenegro nach Bar, ein Weg, der über Gebiete führt, die zu beiden serbischen Staaten gehören und dessen Einwohner fast ausschließlich Serben sind. Oder aber über die Vardar-Ebene nach Saloniki, ein Weg, der über jene Verkehrsader führt, die allein durch ihre geographische Lage dazu bestimmt ist, Hauptverkehrsstrecke für den Handel zwischen der Balkanhalbinsel und der restlichen Welt zu sein.

Was die zweite Möglichkeit anbelangt, so war, wie später noch ersichtlich wird, die Bourgeoisie in den Kleinstaaten des Balkans nicht imstande, separatistische Tendenzen in den Griff zu bekommen und den strategisch wichtigen Hafen von Saloniki für alle drei Staaten zu einem, geographisch bereits dazu bestimmten, Tor zur Welt zu machen. Die serbischen und besonders die albanischen Großgrund-besitzer führten ihre Völker in die Katastrophe von Bregalnica: Saloniki solle ausschließlich unter griechischer Herrschaft stehen, obwohl die Stadt für Griechen-land kaum von Nutzen oder Bedeutung war. Die serbische Bourgeoisie war nicht einmal stark genug, die Dynastien Serbiens und Montenegros auszuschalten und mittels Zusammenschluss zweier Verwaltungsgebiete ein und desselben Volkes zu einer staatlichen Einheit den lang ersehnten Zugang zum Meer über eigenes Gebiet zu sichern. Statt dessen werden heute zwischen zwei verwandtschaftlich so nahestehenden Ländern Grenzlinien gezogen, obwohl man kaum, weder auf der einen, noch auf der anderen Seite, Leute finden wird, die solch eine Vorgangsweise verstehen und gutheißen würden. Die königlichen Grenzsoldaten, in deren Auf-gabenbereich es fällt, die festgesetzten Grenzen zu bewachen, werden somit Zeuge der Unfähigkeit der Bourgeoisie, völkervereinend zu wirken.

Anstatt sich nun innerhalb dieser natürlichen geographischen Gegebenheiten einen Zugang zum Meer zu verschaffen, wobei man entschieden und systematisch gegen separatistische Tendenzen vorgehen hätte müssen, nahm die Regierung eben jene separatistischen Tendenzen zur Grundlage für den Vertrag mit den Verbündeten. Damit schnitt sich die Bourgeoisie beide natürlichen Zugänge zum Meer selber ab. Mit diesem Verzicht tendiert sie dazu, dass der Weg zum Meer durch albanisches Karstgebiet führt sowie über Gebiete mit einem kompakten fremden Element, einem Element mit dem größten Widerstandspotential in der einstigen europäischen Türkei. Gleichzeitig befindet sich dieses Gebiet tief in den Fängen einer Er-oberungspolitik zweier europäischer Großmächte. Da diese Politik noch auf halbem Wege Schiffbruch erlitt, haben wir heute nur die teuer bezahlte Erfahrung hinsichtlich der Bedeutung des österreichisch-italienischen Einflusses, und so denkt auch niemand an die Opfer, die wir bei einer Eroberung und Unterwerfung des albanischen Volkes bringen müssten.

Als unsere Verkehrsverbindung zur restlichen Welt hat die Adria bedeutende Nachteile aufzuweisen:

1.?Sie hat ihre einstige handelsstrategische Bedeutung verloren. Die Adriahäfen zählen nicht mehr zu den wichtigsten Stationen des Weltverkehrs, wie dies vor einigen Jahrhunderten noch der Fall war: Sie sind auch keine Umschlagplätze mehr für Waren aus den Balkanländern. Die großen internationalen Verkehrswege des Mittelmeers führen nicht mehr über die Adria, sondern umgehen sie meist und kreuzen sich in Saloniki, womit Saloniki zur wichtigsten Verkehrsverbindung in den Osten geworden ist – und das nicht nur für den Balkan, sondern auch für ganz Mitteleuropa. Wäre der serbische Handel auf seiner Suche nach einem freien Zugang zum weitläufigen Weltmarkt auf einen Adriahafen angewiesen, würde er sich wieder mit den Dampfschiffahrtsgesellschaften und Märkten, vornehmlich Österreich-Ungarns und Italiens, konfrontiert sehen.

2.?Auch wenn der Bedarf unseres Warenverkehrs von der Adria gänzlich gedeckt werden würde, so kann die Richtung desselben nicht willkürlich und unabhängig von der Richtung des Welthandels festgesetzt werden. Wie dies Prof. Cvijic im Großen und Ganzen bereits aufgezeigt hat, endet diese Richtung heute in Saloniki. Der Hafen von Saloniki ist der Ausgangspunkt der Verkehrsader Vardar-Morava, der – mit dem Aufstieg Mitteleuropas und dem Vordringen des Wirtschaftslebens in den asiatischen Osten – für ganz Europa beträchtlich an Bedeutung gewann. Der gesamte Handel aus den Gebieten des einstigen und heutigen Serbien spielte sich nun im Hafen von Saloniki ab. Der Handelsverkehr aus dem späteren Serbien erstreckte sich nach Norden, der Handelsverkehr aus Altserbien und Makedonien nach Süden. Mit dem Zusammenschluss beider Gebiete zu einer staatlichen Einheit, vorausgesetzt natürlich, es herrscht beiderseitiges Entgegenkommen, wird der Warenverkehr in beide Richtungen laufen. Aber die Richtung Nord-Süd kann nicht künstlich in die Richtung Ost-West verwandelt werden, wie sehr dies auch dem Wunsch politischer Bestrebungen entsprechen mag. Alle künstlichen Maßnahmen in diese Richtung, wie zum Beispiel die Politik der Eisenbahngesellschaften, fordern enorme Opfer und stellen eine Belastung für die Wirtschaft dar, ähnlich den strategischen Bahnverbindungen. Wenn es die serbische Regierung, während sie in Albanien kämpfte, verabsäumte, unserem Handel einen freien Zugang über Saloniki zu verschaffen, so ist der brudermörderische Krieg nicht nur ein Verbrechen gegenüber dem serbischen Volk, sondern auch ein Verbrechen auf Kosten anderer.

3.?Ein Zugang zur Adria, als Sicherheitsventil im Falle schlechter Beziehungen zum Norden oder Süden, würde unsere wirtschaftliche Stärke mit unnötig großen Opfern belasten. Vor allem ist der Bau eines funktionierenden Hafens mit großen Schwierigkeiten verbunden. Als bester Balkankenner vertritt Prof. Cvijic folgende Ansicht:

"In dem Teil, den die serbische Armee eingenommen hat, gibt es nur eine geeignete Bucht – die von Durres. Obwohl diese Bucht mit Sand zugeschüttet ist und daher nur eine Tiefe von sechs bis zehn Metern aufweist und Süd- und Südwestwinden ausgesetzt ist, kann sie zu einem funktionstüchtigen Hafen ausgebaut werden. Damit sind freilich erhebliche Kosten verbunden."

Ohne umfangreiche technische Arbeiten können auch die übrigen Buchten entlang dieser Küste nicht als Häfen genutzt werden.

All diese Kosten, den Bau der Hafenanlage und des Eisenbahnnetzes betreffend, verlieren an Bedeutung in Hinblick auf die nicht abschätzbaren Verluste, die bei der Absicherung dieses Verkehrsweges entstehen würden. Ob nun Serbien lediglich eine Bahnlinie bekäme oder gar einen größeren oder kleineren Landstrich – die Unterwerfung des albanischen Volkes wäre mit Opfern verbunden, zu denen sich ein guter Kaufmann nur schweren Herzens entschließen würde. Je größer der Land-strich wäre, den Serbien bekäme, desto größer auch die Opfer. Serbien müsste, um ganz Nordalbanien, auf das man schon lange ein Auge geworfen hatte, unterworfen zu halten, beträchtliche militärische Einheiten zur Verfügung stellen. Für die "Wiederherstellung" der Ordnung würde es alljährlich unweigerlich zu einem Blutvergießen kommen. Die serbischen Exporte an die Adria würde von zuneh-mendem Militarismus, ständigen Mobilisierungen und gewaltigen Kolonialkriegen begleitet werden. Eroberungspolitik ist wie ein Fass ohne Boden. Algier kostete die Franzosen mehr als nur die Kriegsentschädigungen, die sie nach 1871 an Deutschland leisten mussten. Die südafrikanischen Kolonien kosteten Deutschland über eine Milliarde Mark und brachten nichts ein. Ist Serbien erst einmal in Albanien in Kämpfe verwickelt, wird es bemerken, dass es weitaus einfacher ist, die imperialistischen Staaten mit Hilfe von Verbrechen gegenüber den eroberten Völkern einzuholen, als das Bringen der Opfer, die der Widerstand jener Völker fordert. Falls Serbien nicht imstande ist, seine wirtschafliche Stellung zu stärken, ohne sie gleichzeitig durch unproduktive Zielvorgaben zu schwächen, kann es sich darauf gefasst machen, dass eines Tages der Hauptteil seiner Exporte Menschen sein werden, die nicht nach Albanien, sondern nach Europa gehen werden.

So stellt der Zugang zum Meer, der nur durch die Eroberung Albaniens möglich ist, für Serbien eine wirtschafliche Absurdität dar. Die Versklavung des albanischen Volkes jedoch, als Mittel, sich einen Zugang zum Meer zu verschaffen, erwies sich als politische Absurdität. Da auf Eroberungspolitik gesetzt wurde, eine Politik, in der es nicht auf vorrangige Ziele ankommt, sondern ausschließlich auf das Recht des Stärkeren, stand Serbien schon von vorneherein auf verlorenem Posten. In Albanien traf Serbien auf zwei große politische Mächte, die dort bereits größeren Einfluß ausübten als das Osmanische Reich. Es macht nichts, dass Albanien an sich der Opfer nicht wert wäre, die Österreich-Ungarn und Italien seinetwegen auf sich nehmen müssen, da diese Opfer nicht für Albanien gebracht werden, sondern für den Einfluss, den sie mit Hilfe von Albanien auf den Adriaraum und den Balkan-raum ausüben können. Hat die Regierung unter Pasic den Widerstand seitens dieser beiden Mächte richtig eingeschätzt, oder hat sie die Unterstützung ihrer "Freunde" überschätzt? Eine durchaus interessante Frage angesichts der Tatsache, dass Serbien mit seinen Eroberungsmethoden und Prätentionen, mit Hilfe einer Mini-armee, unbewusst darauf hingearbeitet hat, die ‘albanische Frage’ nach dem Wunsch jener zu lösen, die ihre imperialistischen Ambitionen besser zu stillen wissen.

In einer Zeit hochgradiger imperialistischer Politik erwies sich die Eroberungs-politik des kleinen und wirtschaftlich unterentwickelten Serbien, das auf Gemein-schaft angewiesen war und nicht auf das Unterdrücken der schwachen Völker rund um sich, als wirtschaftliche und politische Absurdität – als contradictio in adjecto – als unmögliche Politik.

Der Traum von einem Zugang zur Adria durch eine Eroberung Albaniens gehört der Vergangenheit an, aber er wird noch lange in den Köpfen des serbischen Volkes herumgeistern. Serbien wollte sowohl einen Zugang zum Meer als auch eine eigene Kolonie. Letztendlich blieb es ohne Zugang zum Meer, und aus der geplanten Kolonie wurde ein Todfeind. Serbien wollte den Fremdeinfluss aus Albanien ver-drängen, verstärkte ihn aber nur. Mit seiner Eroberungspolitik strebte Serbien eine radikale, definitive Lösung zugunsten seines Einflusses an der Adriaküste an und festigte damit endgültig die Stellung der Fremdherrschaft. Da die falschen Mittel eingesetzt wurden, wirkten sich Serbiens Bestrebungen, sich Zugang zum Meer zu verschaffen, gegenteilig aus: Das, was man nur mit der Einwilligung und Teilnahme des befreundeten, befreiten albanischen Volkes erreichen konnte, wollte man ohne diese Zustimmung verwirklichen. Man versuchte mit einer aktiven Eroberungspolitik sich Zugang zum Meer zu verschaffen. So eine Vorgangsweise war natürlich zum Scheitern verurteilt.

 

4. Die Besetzung Albaniens 

Die militärische Eroberung Albaniens wurde von der serbischen Regierung mit Überlegungen und einer Einschätzung der Lage durchgeführt, wie man sonst im Privatleben nur gewöhnliche Spaziergänge unternimmt. Das Fehlen von militä-rischen und politischen Sicherheitsmaßnahmen, welche die Umstände verlangten, ließ diesen entscheidenden militärischen und politischen Schritt wie einen politischen "Spaziergang" – Lustreise würden die Deutschen dazu sagen – aussehen. Ein "Spaziergang", der in die Geschichte des serbischen Volkes als blutigste Erinnerung an eine einjährige Kriegsherrschaft der Bourgeoisie eingehen und von ihrer rücksichtslosen Haltung gegenüber Menschenleben nachhaltig Zeugnis ablegen wird.

Mit Begeisterung verglich jemand die serbischen Truppenbewegungen in Richtung Adria mit Napoleons Feldzug über die Alpen. Was die einfachen Soldaten betrifft, so haben diese in der Tat – und dies gereicht der ganzen Nation zur Ehre – gewaltige Schwierigkeiten erfolgreich bewältigt. Die militärischen und politischen Macht-haber haben in ihrer Rücksichtslosigkeit jedoch genau das Gegenteil bewirkt: Ihre Bedenkenlosigkeit wurde immer größer, ihr Wahnsinn immer gefährlicher und die Zahl der Opfer immer größer. Von Anfang an gab es erschreckend viele Tote. Der Korrespondent der Zagreber Tageszeitung "Obzor", D. Masic, beschreibt den Einmarsch der Drina-Division in Albanien mit folgenden Worten:

"Am siebenten Tag dieses erbärmlichen Feldzugs musste die serbische Armee beachtliche Verluste einstreichen. Der Tross war schon drei Tage lang aus-stehend. Es gab weder Nahrung für die Soldaten noch Futter für die Pferde. Das ständige Marschieren bei Kälte und Regen, der eklatante Mangel an Schlaf und der quälende Hunger hatten die Soldaten derart geschwächt, dass sie sich kaum noch auf den Beinen halten konnten. Jeden Augenblick konnte ein Pferd ausrutschen und, vollbepackt mit Verpflegung und Munition, die Schlucht hinunterstürzen. Die Soldaten blieben stehen, um die Munition selber zu tragen, stürzten aber unter dem Gewicht der Last und vor Erschöpfung selber zu Boden. Es schien, als würde, sollte diese unerträgliche Situation auch nur einen weiteren Tag noch anhalten, keiner diese wüstenartige Landschaft lebend ver-lassen. Gleichwohl wurde den ganzen Tag lang bei unerträglichem und ständigem Regen schweigend weiter marschiert. Von Marschieren kann eigentlich keine Rede sein, denn die Soldaten schleppten sich in langen Kolonnen weiter und ließen erschöpfte, kranke und tote Kameraden zurück."

Um nichts besser erging es der Sumadija-Division, die sich von Prizren über Orosa vorwärts bewegte. Über den in der Division herrschenden Hunger schrieb ein Offizier:

"Wie sehr auch in diesen Tagen Brot als Delikatesse galt, konnte ich doch ein halbes Brot bekommen – einer meiner Soldaten, der dafür hatte vier Dinar zahlen müssen, hatte es mir geschenkt. Am nächsten Tag kostete das Brot schon fünf bis sechs Dinar; ein Kavalleriesoldat zahlte für ein Soldatenbrot und ein Stück Speck sogar acht Dinar. Später, als es kein Brot mehr gab, schnellte auch der Preis für Mais in die Höhe. In den letzten Kriegstagen wurden die kleinen Maiskolben, die 12 bis 15 cm lang waren und aus dem Bergland kamen, um einen Groschen pro Stück verkauft. Die überhöhten Preise lassen nur schwer das Ausmaß des Hungers und Leids, mit dem wir zu kämpfen hatten, erkennen."

Wenn schon die Offiziere mit solchen Schwierigkeiten zu kämpfen hatten, um wieviel größer muß dann die Not der einfachen mittellosen Soldaten gewesen sein, die während des ganzen Krieges keinen einzigen Groschen Geld bekamen!

Schon seit Beginn des Krieges ließ die Küsteneinheit der serbischen Armee eine Spur von Gräbern hinter sich: Soldaten, die vor Hunger und Erschöpfung gestorben waren, die erfroren waren, weil sie ohne Schutz vom Frost überrascht worden waren. Wessen Opfer waren das?

Die aufgrund ihrer zahlenmäßigen Unterlegenheit und ihres physischen Er-schöpfungszustandes geschwächten serbischen Truppen waren keinen schwereren Kämpfen mit den gut organisierten albanischen Stämmen gewachsen.

Gegenüber den geschwächten serbischen Truppen verhielten sie sich als ehrenvolle, neutrale, aber unabhängige Beobachter, die ihr Wort gaben, keine weiteren Angriffe zu unternehmen, dafür aber eine Bestätigung der "friedlichen" Absichten der serbischen Armee erwarteten. Mit der Autorität eines Stammesfürsten ließ Prenk Bib Dada die hungrigen, kaum bekleideten und völlig erschöpften serbischen Truppen weiterziehen, unter der Bedingung, dass sie sich friedlich verhielten und den Mirditern kein Leid zufügen. Die Kommandanten achteten verstärkt darauf, dem Stamm der Malisorci nicht zu nahe zu treten. Diese Haltung der albanischen Stämme basierte auf der aus Wien und Rom stammenden Überzeugung, Albaniens Autonomie wäre gewährleistet und die serbischen Truppen würden sich zurück-ziehen müssen. Napoleon wurde über die Alpen gelassen, weil er zum Rückzug gezwungen worden war.

Der Großteil unserer Soldaten in Albanien wurde Opfer von Krankheiten. Vor allem an Erschöpfung und an der Ruhr, die als natürliche Folge von Hunger und verrosteter Ausrüstung auftrat, starben viele unserer Soldaten, die als ausübende Kraft hinter Napoleons Feldzügen standen und an deren Grundausrüstung und Verpflegung den politischen und militärischen Machthabern herzlich wenig gelegen war. Ihre Kommandanten, die keine Bedenken hatten, hungrige und erschöpfte Soldaten zu erschießen oder solch ein Verhalten zumindest zu dulden, hatten nichts mit jenem russischen Feldherrn gemein, der bei dem Übergang über die Alpen seine Loyalität zu den hungrigen Truppen bewies, indem er sich selbst ein Grab aushob. Während des ganzen Feldzugs waren "blinde" Kräfte am Werk: Hunger und Er-schöpfung, Schläge und Revolver!

Wie wenig das Leben dieser Soldaten wert war, veranschaulicht auch folgendes Beispiel. Auf Befehl des Kommandanten wurden während des langen, über Hun-derte von Kilometern dauernden Marsches kleinere Trupps als Art Verbindungs-posten zurückgelassen. Der Wahnsinn eines solchen Befehls ist aus rein militä-rischer Sicht offensichtlich, ebenso offensichtlich wie ihr Schicksal in der aufgebrachten Masse der albanischen Bevölkerung, die sich über Grausamkeiten der serbischen Armee in den östlichen Gegenden erbittert zeigte. Die armen Soldaten wurden Opfer dieser Erbitterung. Von den an den Verbindungsposten zurückgebliebenen Soldaten überlebte keiner, um von ihrem Schicksal zu berichten. Und ihre Eltern und Geschwister suchen noch heute mit Hilfe von Zeitungsinseraten vergeblich nach ihnen. Die darauffolgenden Racheaktionen – albanische Dörfer wurden angezündet und die Bevölkerung massakriert – sind keine Entschädigung für die vielen sinnlosen Verluste.

Die Wahnsinnstaten und die enormen Verluste, an denen die Küsten-Division letzt-endlich zugrunde ging, scheinen kein Ende zu nehmen. Da die Größe der Aufgabe die Truppenstärke in jeder Hinsicht übertraf, wurden in die Vorhut am Dajgu, jenem Ort der ersten Niederlage im Kampf gegen die Shkodra-Truppen, Reserve-einheiten der Drina-Soldaten geschickt. Ohne Zelte und mitten im Karst, wo kein einziges Holzstückchen aufzutreiben war, das man als Brennholz hätte verwenden können, hielten sie Wache und starben an den Folgen der winterlichen Tem-peraturen. Nach dem ersten ernstlichen Angriff seitens der ausgeruhten Shkodra-Truppen musste die Drina-Division den Rückzug antreten. Zurück blieben Leichen über Leichen, welche von den zur Verstärkung eingetroffenen Sumadija-Truppen tagelang eingesammelt und begraben wurden.

Höhepunkt dieses rücksichtslosen Opferns menschlichen Potentials und der sinn-losen, zum Scheitern verurteilten abenteuerlichen Bravourstücke war jedoch das Blutbad von Brdica. Was sich hier wirklich zugetragen hat, liegt noch im Dunkeln. Die Befestigungsanlagen von Shkodra repräsentieren den modernsten Bautyp, da das türkische Reich besonderen Wert darauf legte, dass Shkodra als bedeutende Wachanlage im äußersten strategisch besonders wichtigen Teil des Reiches so gut wie möglich befestigt war. Es gab unterirdische Laufgräben aus Beton. Von außen läßt sich auch mit den besten Fernrohren nichts erkennen, und wenn der Kampf beginnt, sieht man nicht, aus welcher Richtung geschossen wird. Das Vordringen angreifender Truppen wird von verschiedenen Hindernissen, die in mehreren Reihen angeordnet sind, vereitelt. Dabei handelt es sich in erster Linie um Haiduckengräben, die unter Wasser gesetzt werden können, sowie um Stachel-drähte, die mittels in Zement gefassten Eisenpfeilern miteinander verbunden sind. Die ganze Befestigungsanlage wird nun nicht nur von Infanteriegeschützen aus den verborgenen Laufgräben verteidigt, sondern auch von zahlreicher Artillerie, ins-besondere von Stadtkanonen größter Ausführung.

Auch der einfachste Soldat wusste, dass eine solche Verteidigungsanlage nicht mit bloßen Händen und mit Hilfe einiger Gebirgsbatterien, ohne einer einzigen Feldkanone, erobert werden konnte. Der Angriff wurde dennoch befohlen, und am 26. Jänner erlitt das serbische Volk eine der größten und schwersten Niederlagen während des ganzen serbisch-türkischen Krieges. Die Kunde von der schrecklichen Niederlage drang durch Zufall über Montenegro bis nach Belgrad, die Belgrader Presse verabsäumte es nicht, in dem Artikel "Die Schlacht in Brdica" die Urheber dieser furchtbaren Niederlage zu verurteilen:

"Im Allgemeinen herrscht die Meinung, dass dort dem Verlust von Menschen-leben keine Rechnung getragen wurde. Ein Menschenleben ist dort nicht mehr wert als ein einfacher Kürbis."

Einige Tage später folgt unter dem Titel "Ein Verbrechen" ein Artikel "eines Fachmanns", den mit Sicherheit ein Offizier geschrieben hat:

"Jeden Tag werden neue grauenvolle Details von dem schrecklichen Blutbad laut, dem unsere Küstentruppe in Brdica ausgeliefert ist. Die Regierung versucht auch weiterhin, diese blutige Tragödie zu verschleiern und vermeidet mit allen Mitteln, die Liste der Verluste, die unsere Armee in dieser gedankenlosen Aktion erlitten hat, zu veröffentlichen. Nach der Veröffentlichung unseres Berichts aus Murican herrscht angesichts dieses an der serbischen Armee verübten Verbrechens eine derart emotionsgeladene Atmosphäre, daß alle Vertuschungs-versuche der Regierung fehlschlagen. In Brdica mussten knapp 1300 serbische Soldaten und 39 Offiziere eines sinnlosen Todes sterben. Für dieses sinnlose Blutvergießen wird jemand die Verantwortung übernehmen müssen."

Genaue Angaben über die Verluste in Brdica sind noch nicht veröffentlicht worden, aber sie sind bei den Serben und Montenegrinern beträchtlich höher als die in dem Artikel angeführten Zahlen. Tausende von Menschen wurden in den Tod getrieben, als ob sie niemandem mehr von Nutzen sein könnten. Anstatt, angesichts der Be-schuldigungen, den wahren Sachverhalt bekanntzugeben, erklärte das Regierungs-organ Samouoprava, wie der Kommandant der Küstendivision am frühen Morgen des 26. Jänners von der montenegrinischen obersten Kommandostelle den ausdrückliche Befehl bekommen habe, Brdica anzugreifen. Gleich darauf wurde der Befehl zum Angriff gegeben, und dem Kommandanten müsse, so das Regierungs-blatt, Dank ausgesprochen werden, da eine Stellung der Brdica verteidigenden Soldaten in montenegrinische Hände fiel! Demnach hat der Kommandant der Küstendivision entweder bewusst einige Tausende Soldaten wegen des militä-rischen Erfolgs, dessen Bedeutung in Frage gestellt werden kann, an der monte-negrinischen Front in den Tod getrieben, oder er brachte aus Respekt vor der großen Persönlichkeit des Hauptkommandanten der montenegrinischen Truppen einige Tausende Opfer dar. Dass dieses ganze Unternehmen von Beweggründen geleitet wurde, die mit den gewöhnlichsten Kriegsregeln nichts gemein hatten, lässt sich auch daran erkennen, dass nur eine einzige Kolonne in den Hinterhalt geriet und, völlig allein gelassen, ohne jegliche Hilfe, zugrunde ging. So spielte sich vor den dicken Festungsmauern Shkodras ein blutiges Drama ab, damit der monarchis-tischen Selbstgefälligkeit eines Kleptomanen genüge getan wird, der sein armes Stück Land vor eben diesen Festungsmauern begraben hat.

Einen Monat später kam es zur schrecklichen Niederlage im Hafen von San Giovanni di Medua. Truppen, die auf einem Schiff aus Saloniki gesandt wurden, um die Belagerung Shkodras zu forcieren, mussten den ganzen Tag an Bord warten, damit sich einer ihrer erbarmte und sie ausschiffte. Dabei wurden sie von dem türkische Kreuzer "Hamidiye" überrascht. Das Blutbad von Brdica hat zu keinen verstärkten Vorsichtsmaßnahmen hinsichtlich neuer Gefahren geführt. In Brdica wurde nicht rechtzeitig der Befehl zum Rückzug gegeben, in Medua hat die "Hamidiye" ihr Kommen nicht angekündigt! Nichts von dem, was zur Rettung von Menschenleben hätte beitragen können, wurde unternommen, und "der Kapitän und die Besatzung des Schiffes vergaßen völlig auf die Rettung der Soldaten. Wenn das eigene Leben in Gefahr ist, lässt die Disziplin nach. Unordnung und Kaltblütig-keit übernehmen das Kommando. Kein einziges Rettungsboot wurde herunter-gelassen", schreibt Major Radoje Jankovic in der Weihnachtsausgabe des Piemont. Auf Gnade und Ungnade der "Hamidiye" ausgeliefert, welche das Schiff voller Soldaten mit Kanonen torpediert, versuchen die serbischen Soldaten zu fliehen. Major Jankovic beschreibt diesen verzweifelten Augenblick mit folgenden Worten:

"Das Dröhnen der Kanonen beherrschte den Schauplatz. In einem einzigen Augenblick wird die Tragödie des ganzen Tages spürbar. Soldaten, mit der gesamten Ausrüstung am Rücken, stürzten sich aus einigen Metern Höhe in die Tiefen des Meeres. Verletzte versuchten sich in Sicherheit zu bringen, um sich notdürftig einen Verband anzulegen. Herumliegende Eisenstücke verursachten grauenhafte Verletzungen. Andere ließen sich an den Seilen herunter; zu zehnt auf einem Seil. Eines der Seile reißt! Der ganze Zorn der Hamidiye ergießt sich über das Schiff Vervenjotis."

In diesem hoffnungslosen Augenblick, in dem es weit und breit keinen Vorgesetzen gab, der Ratschläge geben konnte, der, wenn er schon nicht helfen konnte, so doch das Schicksal mit seinen Soldaten hätte teilen können, fanden sich zwei Soldaten ohne Rangauszeichnung – der eine ein Korporal, der andere ein Unterfeldwebel – die zur Rettung ihrer Kameraden zwei kleine Kanonen gegen die gigantischen Kanonen des Kriegsschiffs richteten! Die "Hamidiye" zog sich zurück – eine wahre Verwüstung hinter sich lassend.

"Um das zerstörte Schiff schwammen Militärmäntel, Tornister, zersplitterte Gewehrkolben, Soldatengurte und sonstige Spuren der Katastrophe. Herrenlose Militärmützen wiegten sich knapp unter der Oberfläche wie Algen im Wasser. Die unglücklichen Opfer versanken unter der Last ihrer Patronentaschen im Meer, mit den Füßen den sandigen Grund berührend, und bewegten sich wie Wasserpflanzen im Rhythmus der Wellen. Die Hände der Ertrunkenen nahmen einen fahlen Farbton an, manche Hand hielt noch verkrampft das Gewehr… Hie und da erscheint ein ganzer Kopf auf der Wasseroberfläche. Eine Welle überspült ihn, und das Haar wird hin und her bewegt – man sieht den Scheitel… Wie vom Baum gefallene Blätter trägt das Wasser schöne tote Burschen aus dem Mündungsgebiet des Drin. Das erste Mal, seit sie im Krieg sind, hat sie die Übermacht überlistet. Helden aus Zebrnjak, Abdi-Pasa und Bakarni Guman liegen besiegt im Wasser. Auf ihren Gesichtern unausgesprochene Wünsche. Zuhause wartet die Braut, das Obst treibt schon Knospen, ihre Augen sind aber tot."

Wer weiß, wohin dieser Wahnsinn noch geführt hätte, hätte Shkodra sich nicht ergeben und hätte Europa die Albanienfrage nicht an sich gerissen. Die serbische Regierung hätte vom makedonischen Kriegsschauplatz aus weiterhin neue Truppen entsandt, damit sie den Platz ihrer Kameraden einnehmen, denen die Schneewehen im albanischen Karstgebiet, der Hunger, Krankheiten, der schlammige Untergrund von Shkodra und die Adria zum Verhängnis wurden. Wegen eines von beiden Seiten nicht gewollten Kampfes zwischen den serbischen und albanischen Truppen-abteilungen und der restlichen Armee Dzavidovs wurde in Albanien die ganze Morava-Division mobilisiert. Was wäre erst geschehen, hätten die Albaner nicht ruhig auf eine Lösung Europas gewartet?

Ja sogar die "wilden" albanischen Stämme konnten die für Albanien so ent-scheidende Bedeutung dieser Lösung besser beurteilen als die serbische Regierung. Indem sie darauf warteten, die serbischen Truppen dorthin zu begleiten, woher sie gekommen waren, gelang es ihnen eindeutig besser, unnötige Verluste zu ver-meiden als der Regierung, die unter den unheilvollen Suggestionen des russischen Einflusses stand. Nach zwölfmonatigem Hungern, Leiden, Zugrundegehen, sinn-losem Verschwenden von Menschenleben wurden die traurigen Überreste der Küstendivision zurückgebracht. Zurückblieben: 5000 Soldatengräber und der Hass der Bevölkerung.

 

5. Die Kolonialkriege 

Dass eine militärische Besetzung Albaniens zwangsläufig den verzweifelten Widerstand der albanischen Gebirgsstämme hervorrufen wird, schien offensichtlich nicht nur die Regierung unter Pasic zu erwarten. Sie hatte vergessen, dass für die Tradition dieser Bergbewohner die Türkei das verheißene Land war, dass sie aus Gründen der Religion stark mit der islamischen Welt verbunden waren und somit auch ein Großteil der türkischen Staatsmacht an dieses Karstgebiet gebunden war. Aufstände wurden langsam zur Tagesordnung. Einer dieser Aufstände wirkte sich entscheidend auf das jungtürkische Regime aus. Obwohl die Türkei in Anatolien auf menschliches Potential zurückgreifen konnte, das sie bei Bedarf gegen die Aufständischen in Europa, gegen die albanischen Stämme, einsetzen konnte, jene wiederum wurden dann gegen die Christen eingesetzt – trotz all dem stellte die Unterwerfung des albanischen Volkes für den türkischen Staat eine schwierige Aufgabe dar.

Mit solchen Fragen setzte sich die serbische Regierung jedoch nicht übermäßig auseinander. Der natürliche Widerstand der albanischen Stämme wurde von der Regierung nicht nur nicht beachtet, sondern im Grunde sogar provoziert, da sie, nach Vorbild aller Eroberer, die albanische Siedlung zur menschlichen Ausgeburt deklarierte, der man nur mit bloßer Gewalt zu begegnen hätte. Nach einigen unerwarteten militärischen Siegen über die Türkei verfielen die Regierung sowie die Bourgeoisie Serbiens in eine Art Götzendienst: Der feste Glauben an die Macht der Waffe schien als einziges radikales und zielführendes Mittel zu gelten. Ohne politische Anweisung trieb sie die Armee in Richtung Küstenland und besetzte einen Großteil albanischen Gebiets, ohne den Soldaten strikte Anordnungen zu geben, wie sie sich gegenüber den zuversichtlichen albanischen Stämmen zu verhalten hätten. Somit gab sie den Anstoß für ständige Grenzkämpfe, in deren Verlauf es auf beiden Seiten zahlreiche Verluste zu beklagen gab. Den politischen Entscheidungsträgern kam es nicht in den Sinn, darüber nachzudenken, wie viele der erlittenen Verluste vermieden hätten werden können, hätte man dem Verhalten der serbischen Armee gegenüber der unterworfenen Bevölkerung und dem Wunsch dieser Stämme, dass ihre von Natur aus schwierigen Lebensbedingungen nicht noch mehr beeinträchtigt werden und ihre Lebensgewohnheiten nicht in unverschämter Weise angegriffen werden, Rechnung getragen.

Sobald die Soldateska sich selbst überlassen war, deren politische Orientierung nicht ganz klar war, und mit der albanischen Bevölkerung in Berührung kam, richtete sie eine derartige Verheerung an, dass sie das albanische Volk in einen verzweifelten Kampf ums Überleben stürzte. Dies war der Auftakt zu einer Reihe kolonialer Kriege. Seitdem die serbische Armee das erste Mal türkischen Boden betreten hat, halten diese Kriege, abgesehen von kürzeren oder längeren Unter-brechungen, bis heute an. Es scheint auch kein Ende in Sicht zu sein.

Die Presse der Bourgeoisie, die angesichts der grausamsten Methoden kolonialer Ausbeutung seitens der Soldateska keine Regung zeigte, stimmte aber einen infernalischen Entrüstungsschrei über das "barbarische" Verhalten der Albaner an. Je weniger die Regierung imstande war, sich dem Druck ihrer mächtigen Rivalen um Albanien zu entziehen, desto lauter wurde der Schrei der Entrüstung. Nicht einmal die zweifellos wilden und primitiven afrikanischen Stämme empfingen den europäischen Eindringling mit offenen Armen, indem sie ihm seine weiße Hand küssten. Wieviel weniger konnte man das also von den Albanern erwarten, die für ihre politischen Wünsche in den letzten zehn Jahren schon so viele Opfer gebracht hatten! Damit hatte jeder zu rechnen, der nicht schon von vornherein entschlossen war, einen Kampf bis zur völligen Vernichtung zu führen.

Der albanische Septemberaufstand, dessentwegen Serbien erneut knapp drei Divisionen mobilisieren musste, ist ein klassisches Beispiel dafür, wie Kolonial-kriege heraufbeschworen werden. Die Besetzung Albaniens erstreckte sich vom Osten des Landes bis zu dem Punkt, wo Schluchten und Engpässe das Land beherrschen. Die serbische Armee trennte den Bauern von seinem Acker, das Vieh von der Weide, die Herde von der Tränke, das Dorf von der Wassermühle, den Käufer und Verkäufer vom Marktplatz, die Umgebung von der Stadt und ganze Bergsiedlungen von ihren wirtschaftlichen Zentren und Getreidesilos. Ein Albaner auf der einen Seite durfte nicht zu seinem Grund und Boden auf der anderen Seite. Alle Einnahmensquellen waren durchbrochen. In ihrer Verzweiflung, und vom Hunger dazu angehalten, baten sie um freien Zugang zu den Märkten, und als ihnen auch das verweigert wurde, entschlossen sie sich, lieber im Kampf zu fallen, als zu verhungern. Es ist sehr wohl wahrscheinlich, dass am Aufstand einheimische und ausländische Agenten beteiligt waren, auf die die Regierung bewusst das Hauptaugenmerk richten ließ, den Boden für den eventuellen Einfluss dieser Elemente bereitete jedoch die Regierung Pasic vor, indem sie die albanische Bevölkerung mit den gleichen Mitteln von sich wegstieß, mit deren Hilfe sie sich eigentlich um einiges leichter getan und die Albaner für sich gewinnen hätten können.

Aber das militärische Regime hat nicht nur Geschäftsverbindungen und reguläre Verdienstquellen unterbrochen, sondern plünderte auch sämtliche Nahrungs-bestände. Aufgrund des mittelalterlichen Systems der Truppenversorgung, bei der jeder Soldat gerade so viel bekam, dass er nicht hungrig blieb, war die einheimische Bevölkerung zum Hungern verdammt. Mit Hilfe dieses mittelalterlichen Ver-sorgungssystems konnten sich viele Militär- und Zivilbeamte in dieser Gegend die Taschen füllen, vorausgesetzt, sie hatten genug Erfahrung mit der Macht des Geldes; der Bevölkerung in Serbien wurde die durch Kriegskosten entstandene Belastung damit freilich nicht genommen. Im Gegenteil, es wurde ihr noch die Pflicht aufgebürdet, die provozierten Aufstände niederzuschlagen.

Die Regierung hat dieser Art von Diebstahl schließlich sogar eine gesetzliche Grundlage gegeben, indem sie Kontributionen einführte, die von den Militär- und Zivilbehörden in den neuen Gebieten eingehoben wurden. Um zu zeigen, wie empörend hoch diese Steuern angesetzt waren, reichen nur ein paar Beispiele: Pro 100 kg wurden für Spiritus 117 Dinar eingehoben, für Gas 54,65, für Salz 17,60, für Zucker 30, für Bier 20, für Öl 20, für Kaffee 100 usw. Es wurden somit alle jene Dinge besteuert, die vom Großteil der Bevölkerung am meisten verwendet wurden.

Die steuerliche Belastung traf die ausgeplünderte und ihres Verdienstes beraubte Bevölkerung besonders schwer. Aber auch die mittellosen Soldaten waren davon betroffen, wenn sie ab und zu einen Kaffee trinken wollten, Gas für die Wache besorgen mussten oder Zucker kaufen wollten, um den bitteren Geschmack des verschimmelten Soldatenbrotes zu neutralisieren. Und wenn sie zwecks besserer Ausbeutung in den Tod geschickt werden, folgt ihnen auf Schritt und Tritt die Bourgeoisie mit ihrem berühmt-berüchtigten System der indirekten Steuern. Um die Händler in den neuen Gebieten, die diese Steuern nicht gewohnt waren, nicht allzusehr zu verwirren und um ihnen Anleitungen zu geben, wie sie sich behelfen können, stand auf den Quittungen – und das auf Befehl des Oberkommandos: "Der Importeur ist berechtigt, die Steuer für die betreffende Ware auf den Verbraucher zu übertragen."

Unter normalen Bedingungen, bei ungehinderter Wirtschaftstätigkeit, wäre eine solche Verteuerung der Lebenshaltungskosten untragbar. Unter Bedingungen, wo weder regelmäßige Einnahmen noch Bargeld möglich sind, das Volk keine Lira mehr besitzt, führen die Kontributionen zu einem wirklich verzweifelten Ver-teidigungskampf ums Überleben. Hält man sich das alles vor Augen, nämlich: dass für das Leben der Albaner niemand zuständig war und auch niemand Rechenschaft ablegen musste, das Heer in den primitiven Lebensgewohnheiten mit seiner starren Logik der Gewalt etwas ausrichten wollte, alle Einnahmensquellen völlig abge-schnitten waren, Menschen und Tiere nichts zu essen und zu fressen hatten, die Plünderungen schon alle satt hatten, egal ob reich oder arm, – führt man sich das alles vor Augen, dann hat man einen selten typischen Fall vor sich, wie es zu Aufständen kommt. Von den entsetzlichen Szenen der Armut und des Hungers, die sich in Shkodra und anderen Fluchtorten der verdrängten albanischen Bevölkerung abspielten, ganz zu schweigen!

Als der Aufstand ausbrach, erklärte die Regierung über einen Vertreter des Außen-ministers, die Albaner würden "beispielhaft bestraft" werden, die Presse der Bourgeoisie verlangte eine unbarmherzige Vernichtung, das Heer führte aus. Albanische Dörfer, aus denen die Menschen rechtzeitig geflohen waren, wurden Brandstätten. Sie waren aber auch barbarische Krematorien, in welchen hunderte Frauen und Kinder verbrannten. Und solange die Aufständischen die serbischen gefangenen Offiziere und Soldaten entwaffneten und freiließen, solange hatte die serbische Soldateska kein Mitleid mit ihren Kindern, Frauen und Kranken. Ein getreues Abbild dieser Barbarei wurde in den Mitteilungen aus Albanien in "Radnicke novine" [ Arbeiter-Zeitung] , in den Artikeln Blutrache der Soldateska und die montenegrinische Raserei, gegeben. Noch einmal wurde bestätigt, dass ein Volksaufstand primitivster Stämme immer noch humaner ist als die Praxis eines stehenden Heeres, das ein moderner Staat gegen Aufständische einsetzt. Die serbischen Regierenden eröffneten ihr Register von Grausamkeit und kolonialen Mordens, somit stehen sie auf der gleichen Stufe mit den Engländern, Holländern, Franzosen, Deutschen, Italienern und Russen.

 

6. Resultate der Eroberungspolitik

Ein Vertreter der Oppositionsgruppen der Bourgeoisie betonte im Parlament zurecht, dass in der Außenpolitik die Kriegsregierung der Radikalen Partei während der Balkankriege keine echte Opposition hatte, mit Ausnahme der Sozial-demokratie. Diese Einstimmigkeit der Bourgeoisiegruppen in der Außenpolitik wurde in Wirklichkeit durch größere Opfer der Radikalen als ihrer Gegner erreicht, denn wenn die Sicherung des Balkans für die Balkanvölker mittels gegenseitigen Einverständnisses bis zu diesen Ereignissen als leitender Grundsatz der Radikalen Partei in der Balkanpolitik galt, so ist es sicher, dass sie sich im Laufe der Geschehnisse eher ihren Gegnern annäherte als umgekehrt. Auf jeden Fall war die Politik der radikalen Regierung Ausdruck der gesamten Bourgeoisie und Hr. Pasic die geeignetste Person, die ihre "realistische" Politik lenken konnte.

In seiner Albanienpolitik, so wie auch bei anderen Gelegenheiten, liebt es Pasic, uns in Ungewissheit zu lassen. Das ist auch das, was er eigentlich beabsichtigt. Auch in der Diplomatie ist er vor allem Chef seiner Partei, die sich aus der unentschlossenen Kleinbourgeoisie zusammensetzt und die, angesichts der Er-eignisse, mit Geschick und kleinen Spitzfindigkeiten versucht, den fehlenden breiten politischen Horizont und die mangelnde Beharrlichkeit in einer bestimmten Richtung wettzumachen. Je größer die Disproportion großer Ansprüche und kleiner Mittel wurde, desto stärkeres Zaudern herrschte in den Kabinetten der balkanischen Kleinstaaten während der großen Geschehnisse am Balkan. In der diplomatischen Kunst des Hr. Pasic äußerte sich das in seiner Fähigkeit, etwas zu wollen und doch nicht zu wollen, diese Politik des "Wollen – Nicht-Wollens" eröffnet ihrem Führer auch die Möglichkeit, einen gesetzten Versuch doch noch zurückzuziehen, so als wäre er niemals ernsthaft überlegt worden, die "Versuche" kamen dem serbischen Volk allerdings teuer zu stehen. In diesen Versuchen und Fragen vergingen die schicksalhaftesten historischen Momente, die einen konsequenten Einsatz aller Autorität zur Entscheidung erforderten, welche Resultat einer realistischen Einschätzung der allgemeinen Lage am Balkan und der tatsächlichen Situation der Balkanvölker gewesen wären.

Wie sieht die Situation aus und welche Lösungen schreibt sie vor?

Die Balkanhalbinsel ist ein Schmelztiegel von Völkern mit kreuzweise übereinander liegenden historischen Erinnerungen. Die einzelnen Teile der Halbinsel, die in diesen historischen Erinnerungen eine Region für sich darstellen, sind miteinander verflochten, ihre natürlichen Richtungen kulturellen und wirtschaftlichen Aus-tausches mit der übrigen Welt überlagern sich. Das gilt vor allem für seine zentralen Teile, Altserbien und Makedonien, für jene Gebiete, die das Haupterbe der Türken tragen. Das heißt, als aus diesen Regionen durch Anstrengungen der Volksmassen die türkische Herrschaft verdrängt wurde, drängten sich die herrschenden Kreise der Balkanländer vor, die Hände voll mit Plänen über die Aufteilung der erhaltenen Gebiete aufgrund historischer und nationaler Rechte, wirtschaftlicher und poli-tischer Notwendigkeiten. Aber, welch ein Übel! Die Aufteilung kann ohne Ver-letzung nationaler Prinzipien, Gefährdung der Staatsexistenz, Verletzung echter Wirtschaftsinteressen und eitler und längst vergangener historischer Rechte nicht erfolgen. Zum Beispiel ist Saloniki das Tor des Balkan, es muss allen offenstehen, es gibt nur ein Saloniki, und das ist integral. Die Verkehrs- und Wirtschaftsachse des Balkan, ohne die Saloniki nicht das wäre, was es ist, ist sicherlich das Vardar-Tal, und es ist ebenso unteilbar. Genauso verhielt es sich mit den mittelalterlichen Reichen, deren Grenzen sich ständig verschoben oder überschnitten, deshalb befinden sich auch die historischen Absichten der Balkanländer in unversöhnlichem Gegensatz zueinander. Wer wird demnach feststellen, wo die Grenzen des ser-bischen und des bulgarischen Volkes beginnen und wo sie überhaupt aufhören? Wie soll man die makedonischen Slawen in einem nationalen Staat vereinen, ohne die Griechen und die anderen Völker zu unterwerfen? Wie soll man die Griechen in Thrakien national vereinen, ohne die Türken zu unterwerfen und Bulgarien die Verbindung zu den Bulgaren um Saloniki und bis hin nach Kastoria zu unter-brechen?

Das sind nur einige Andeutungen der Masse von echten und eingebildeten Fragen, aufrichtigen und falschen Interessen, die nach dem Sieg über die türkische Herr-schaft auftraten, ähnlich dem Wasser, das aus einem zerbrochenen Gefäß rinnt, und die nur durch die Schaffung einer neuen Gemeinschaft günstig gelöst werden konnten. Da diese Fragen durch die Zerstörung eines Ganzen aufgeworfen wurden, konnten sie auch nur in einer neuen Ganzheit höherer Form friedlich und beifällig gelöst werden. Das war der einzige Weg, der nicht zum Krieg führte, sondern zu Annäherung, Freiheit, Kraft und allgemeinem Fortschritt auf dem Balkan.

Eine Union der Balkanvölker wäre, von der großen Rolle der Abwendung von Bruderkriegen einmal ganz abgesehen, jene Lösung, die für die Völker am Balkan die besten Bedingungen für eine friedliche und erfolgreiche Entwicklung in Zukunft schaffen würde. Alleine durch die Schaffung einer neuen Gemeinschaft anstelle der türkischen Herrschaft hätte man die längst verlorene nationale Freiheit bewahren können, um sie nicht wieder in blutigen Usurpationen von Gebieten zu verlieren; ungerechtfertigten Aneignungen, die die größte Gefahr für die Freiheit der Balkan-völker sind. Die Freiheit scheint nun durch die Besetzungen von eroberten Gebieten tot, ehe sie geboren, damit wurde die Ansicht der Sozialdemokratie historisch be-stätigt, dass nationale Befreiung der Balkanvölker ohne eine Vereinigung des gesamten Balkans zu einer Gemeinschaft nicht möglich sei!

Eine solche Völkergemeinschaft würde alle Völker und Gebiete der Balkan-halbinsel gleichzeitig von gegenseitigen Eingeengtheiten und Absperrungen be-freien, die die vielen Grenzen mit sich bringen, außerdem hätten alle einen freien Zugang zum Meer. Der Balkan wäre eine weite Wirtschaftsregion, in der das moderne Wirtschaftsleben einen Aufschwung erleben würde, und jeder Teil dieser Region hätte in der Einheit eine Garantie für freien Verkehr, die Sicherung der wirtschaftlichen Bedürfnisse, eine schnellere Wirtschaftsentwicklung im all-gemeinen. Die echte wirtschaftliche Emanzipation der Balkanvölker liegt in einer Wirtschaftsgemeinschaft des Balkan. Durch die Vereinigung der politischen Kräfte und des wirtschaftlichen Fortschrittes wären die Balkanvölker unabhängiger und könnten den Eroberungsbestrebungen der kapitalistischen europäischen Staaten eher Widerstand leisten.

Falls etwas politische Realität am Balkan hat, dann ist das die Notwendigkeit einer Gemeinschaft der Balkanvölker. Zur Überzeugung dieser Notwendigkeit gelangt man durch die Beobachtung der tatsächlichen Situation auf der Balkanhalbinsel. Wie ein offenes Buch, das so präzise unsere Zukunft zeichnet, liest sie sich dann, und nur jene Politik der Balkankleinstaaten, die diesen Gedanken zu ihrem wichtigsten Grundsatz erklärt, ist realistisch.

Wie ein Akt im großen Balkandrama, der am engsten verbunden ist mit dem früheren und späteren Geschehen, stellt der Eroberungsfeldzug Serbiens in Albanien die gröbste Abweichung von diesem Grundsatz einer Gemeinschaft der Balkanvölker dar. Gleichzeitig handelt es sich um eine Abweichung, die mit der größten Niederlage endete. Da sich dieser Akt außerhalb der Verworrenheit historischer, ethnografischer und politischer Beziehungen abspielt, die die Konflikte in Makedonien umhüllt, erkennt man in ihm die Absichten der Balkanpolitik der Bourgeoisie am besten. Man erkennt darin die Intoleranz der herrschenden Schichten anderen Völkern gegenüber, die Eroberungsabsichten und die Bereit-schaft der Bourgeoisie, diese durch brutale Verbrechen zu realisieren, die bisher nur in Überseekolonien begangen wurden.

Das Aufgeben des Grundsatzes einer Gemeinschaft der Balkanvölker schon während des Vertragsabschlusses über eine gemeinsame Aktion gegen die Türkei brachte uns dazu, uns gegenseitig in Albanien zu zerschlagen; nachdem wir aus Albanien vertrieben wurden, waren wir in Bregalnica, wo wir uns auf barbarische und wahnsinnige Weise mit unseren Brüdern schlagen mussten. Ein Fehler zog einen anderen nach sich, eine Niederlage hatte die nächste zur Folge. Somit wurde die "reale" Politik des Herrn Pasic durch zwei allzu reale Niederlagen besiegelt: der albanischen und der bregalnischen. Im Falle, dass man das albanische Abenteuer durch die Abgeschnittenheit von Saloniki rechtfertigen möchte – und das Ver-brechen in Bregalnica durch das Verdrängen aus Albanien -, dann muss hervorgehoben werden, dass die Ursache beider Übel ein und dieselbe, und zwar eine einzige ist, nämlich: die Unterdrückungsabsichten der Bourgeoisie, der herrschenden Clique und die entscheidenden Faktoren am Balkan und deren Unfähigkeit, dem beschränkten Separatismus der Herrschaftsinteressen den Grundsatz einer Gemeinschaft voranzustellen, den einst viele ihrer Vertreter predigten.

Die Eroberungshaltung Serbiens, speziell dem albanischen Volk gegenüber, brachte eine Erfahrung mehr über die große Gefahr, die jeder Kampf zwischen den Balkanvölkern für beide Seiten birgt. Gleichzeitig zeigt es, wie durch die Politik der herrschenden Klassen Hass zwischen den Völkern geschürt wird. Heutzutage ist jeder Versuch sehr riskant, die Notwendigkeit einer Zusammenarbeit mit den Albanern einzuschärfen. Im gefährlichen Kampf, ihre falsche Politik zu verteidigen, schuf die Presse der Bourgeoisie viele falsche und tendenziöse Meinungen über die Albaner; und die Eroberungspolitik Serbiens mit ihren barbarischen Methoden musste die Albaner ja mit tiefem Hass uns gegenüber erfüllen. Vorher gab es allerdings keinen Hass. Die serbischen und albanischen Stämme unter den Türken, wie man aus den Geschichten des Marko Miljanov erfährt, lebten eng zusammen. Sie waren durch sehr große gesellschaftliche Verwandtschaft verbunden, die sich in vielen gemeinsamen Bräuchen, Traditionen und Erinnerungen, wie auch in zahl-reichen Aktionen gegen die türkische Herrschaft äußerte; oft gab es auch Bluts-verwandtschaft. Gemäß dem, was Miljanov in Erfahrung brachte, waren die Kuci, Belopavlici, Hoti, Piperi und Klimenti nicht immer Teile zweier verschiedener Stammesgruppen, der albanischen und der montenegrinischen, geteilt in zwei verfeindete Lager, sondern sie befanden sich oft auf einer Seite gemeinsam gegen den Feind. Als Beitrag zu dem, dass die Erinnerungen an die engen Beziehungen auch im albanischen Volk lebten, kann man auch die Aussage der Albaner, die Dositej Obradovic aufgezeichnete, bringen: "Wir waren einst eine Verwandtschaft und ein Stamm mit den Serben."

Viele Faktoren und Ereignisse danach führten dazu, dass sich anstelle der guten Nachbarschaftsbeziehungen und dem Gefühl der Zusammengehörigkeit Intoleranz und Feindschaft breitmachten. Hier trugen die geplante Politik der Zwietracht Konstantinopels und das Vorgehen Serbiens und Montenegros – der albanischen Bevölkerung gegenüber – während der Kriege mit der Türkei am meisten bei.

Wenn überhaupt jemand Möglichkeit zur Verständigung mit den Albanern hatte, dann Montenegro und Serbien. Nicht bloß die gemischten Besiedlungen und die Verwandtschaft der benachbarten Stämme, sondern auch die gegenseitigen Interes-sen wiesen diese zwei Völker an, sich zu verständigen und in friedlichen Be-ziehungen zu leben. So wie der Weg an die Adria durch die einfachen albanischen Besiedlungen führt, genau so führen auch die Verbindungen der Albaner mit dem Innern der Halbinsel über die serbischen Grenzen. Wir brauchen den Zugang zum Meer, und ebenso notwendig brauchen sie das Festland. Unsere Ausfuhrsorgen verweisen uns an die Albaner, deren Hungersnöte verweisen sie an uns. Wenn sich diese zwei Seiten nicht einigen können, dann beschränken sie sich gegenseitig und schnüren sich die Kehle zu.

Allerdings zerbrachen alle Aussichten auf politischen Dialog und Freundschaft bei dieser Gelegenheit mehr an der präpotenten Eroberungsgeste Serbiens als an der Unreife der albanischen Stämme. Serbien ging nicht als Bruder nach Albanien, sondern als Eroberer. Darüber hinaus war es auch nicht Politiker, sondern grober Soldat. Hinter der groben Soldatenpraxis sah man den Politiker nicht. Er hatte außerdem nur einen Gedanken, der sich im Befehl widerspiegelte: Geht und erobert! Entweder Ihr unterwerft oder Ihr vernichtet sie! Durch eine Politik, die nicht mit Menschen, Stämmen, Völkern und der natürlichen Bestrebung Albaniens rechnete, unabhängig zu werden, verlor Serbien jeglichen Kontakt zu den Vertretern des albanischen Volkes, außerdem vergrämte es die Albaner, die von da an alles hassen, was serbisch ist. Wenn das albanische Volk bisher auch keine nationale Einheit war, die durch einen Gedankenimpuls mitgerissen und bewegt werden konnte, so liegt der gemeinsame Gedanke heute leider in der allgemeinen nationalen Revolte der albanischen Besiedlungen gegen das barbarische Vorgehen ihrer Nachbarn Serbien, Griechenland und Montenegro, einer Revolte, die ein großer Schritt im nationalen Erwachen der Albaner ist.

Weil sie sich ausschließlich auf die Soldateska verließ, die kein Verständnis für solche Fragen hat, gelang es der serbischen Regierung, verblendet vom Verlangen nach Eroberung und getäuscht von fremdem Einfluss, nicht einmal, ihre eineinhalbjährige Herrschaft in Nordalbanien zu nutzen, um zumindest einen Akt zu setzen, der die Wunden lindern würde. Es gelang ihr selbst im letzten Moment nicht, als die Frage der Autonomie Albaniens schon gereift war. Die Volksmassen forderten sehnsüchtig die Befreiung aus der armen Untertanenstellung, aber für derartige revolutionäre Taten hatte nur Napoleons Revolutionsarmee Verständnis. Die gebildeteren Schichten verbargen die unerschütterliche Loyalität zur Auto-nomieidee Albaniens auch nicht vor den serbischen Besatzern, allerdings war das, was sogar jeder englische Konservative politisch richtig einschätzen könnte, allzu schwer für die serbischen Radikalen. Sie versuchten mit Gewalt ans Meer zu gelangen. Als Feind drang Serbien nach Albanien, als Feind verließ es das Land auch.

Grenzenlose Feindschaft des albanischen Volkes Serbien gegenüber ist das erste wirkliche Resultat der Albanienpolitik der serbischen Regierung. Das zweite, noch gefährlichere Resultat ist die Stärkung zweier Großmächte in Albanien, die am Balkan die größten Interessen haben. Diese Erfahrung zeigt einmal mehr, dass jede Feindschaft zwischen den Balkanvölkern nur ihrem gemeinsamen Feind zugute kommt. Die Unterdrückungshaltung Serbiens, Griechenlands und Montenegros konnte die Schaffung eines autonomen Albanien nicht verhindern, allerdings war der jüngste Zwergstaat am Balkan somit schon vor seiner Entstehung gezwungen, sich Österreich-Ungarn und Italien vollkommen auszuliefern. Diese Tatsache ist eine große Gefahr für den Frieden und die freie Entwicklung Serbiens. Klar ist, dass die Gefahr nicht vom autonomen Albanien ausgeht, sondern von der Tatsache, dass Albanien im Kampf gegen Unterdrückungsversuche seiner benachbarten Balkan-staaten geschaffen, es diesen entrissen und von Österreich-Ungarn und Italien besetzt wurde. Damit ist Albanien ihnen sehr zugetan. Dort wo Freundschaft eigentlich das Bedürfnis beider Seiten ist, herrscht heftige Feindschaft, und freund-schaftliche Beziehungen entstehen zwischen zwei Seiten, von denen die eine im vornherein verdammt ist, das Opfer der anderen Seite zu sein.

Die Staatsfinanzen und unsere wirtschaftliche Entwicklung bekamen beide die Resultate der Eroberungspolitik Serbiens gegenüber dem albanischen Volk zu spüren, aber am ärgsten traf es die Zehntausenden Sklaven, die im albanischen Karst umkamen. Sie wurden an die Grenze verfrachtet, um mit ihren Leben die Welle an Verbitterung zu stoppen, welche die Herrschenden durch ihre Unter-drückungspolitik hervorgerufen haben, und das Land vor der Gefahr zu bewahren, in die es mit hinein gezogen worden war. Mit den Fesseln, die die Bourgeoisie einem fremden Volk anlegen wollte, beengte sie die Freiheit ihres Landes und Volkes.

Wenn man schlussendlich zum dem Punkt kommt, wo die Eroberungsfeldzüge in Albanien mit verlogenen Theorien über die Unfähigkeit der Albaner, sich national zu entwickeln, zu rechtfertigen gesucht werden, dann zeigen die wahren, leider allzu wahren, bösen Folgen dieses Feldzuges dem ganzen Volk die Unfähigkeit der herrschenden Schichten, eine Politik der Volksinteressen zu verfolgen. Welche Resultate die Arbeit jener bringen wird, die in Albanien für die Autonomie ihres Landes kämpfen, ist eine andere Frage, auf die uns die Zukunft sicherlich eine genaue Antwort geben wird. Aber die totale und teure Niederlage der Eroberungs-politik unserer Bourgeoisie, die gegen die Autonomie kämpfte, steht nun als vollendete Tatsache vor uns und klingt so wie eine feine, historische Ironie auf die Theorie der nationalen "Unfähigkeit" der Albaner.

Da mit der Niederlage der Eroberungspolitik die lange Reihe von Gefahren und Opfern in Hinsicht auf die Freiheit des serbischen Volkes und der Zukunft Serbiens nicht aus ist, ist es notwendig, zumindest jetzt der Wahrheit ins Gesicht zu sehen und entgegen allen Vorurteilen einzugestehen, dass der Kampf, den der albanische Stamm heute führt, ein natürlicher, unumgänglicher historischer Kampf für ein anderes politisches Leben ist, als man es unter der türkischen Herrschaft lebte, ein anderes auch, als man ihn von Seiten seiner Nachbarn, Serbien, Griechenland und Montenegro, den Albanern aufzwingen möchte. Das freie, serbische Volk sollte diesen Kampf schätzen, erstens wegen der Freiheit der Albaner, und zweitens wegen der eigenen, und es sollte jeder Regierung die Mittel für eine Unter-drückungspolitik entsagen.

Als Vertreter des Proletariats, das nie Diener der Unterdrückungspolitik der herr-schenden Klassen war, ist die Sozialdemokratie verpflichtet, Schritt für Schritt die Ausrottungspolitik der Herrschenden gegenüber den Albanern zu verfolgen, sie als Barbarei zu brandmarken, die unter der verlogenen Ausrede einer "höherer Kultur" geschieht, als klassische Politik der Bourgeoisie, die sich auf die Klasseninteressen des Proletariats am schlimmsten auswirkt, als gegen das Volk gerichtete Unter-drückungspolitik, die den Frieden und die Freiheit des Landes in Gefahr bringt und die Lage der Volksmassen gewaltig verschlimmert. Gegen diese Politik bringt die Sozialdemokratie ihren Slogan vor: Politische und wirtschaftliche Gemeinschaft aller Völker am Balkan, einschließlich der Albaner, auf Grundlage voller Demokratie und totaler Gleichheit!

 

Ausgabe der Sozialistischen Buchhandlung,
Beograd, 1914

(aus dem Serbokroatischen übersetzt von Amela Mirkovic)

 

 

 

Dimitrije Tucovic – biografische Anmerkungen

Dimitrije Tucovic wurde am 13. Mai 1881 im Dorf Gostilj am Zlatibor geboren. Er besuchte in seinem Heimatort die Volks- und im nahegelegenen Uzice die Mittel-schule. Danach begann er in Beograd Jus zu studieren. Schon früh engagierte er sich in der sozialistischen Bewegung und war bereits als Mittelschüler Mitarbeiter der in Beograd 1897 gegründeten (und kurz darauf verbotenen) "Radnicke Novine" (Arbeiter-Zeitung). Unter dem Einfluss von Radovan Dragovic, der zentralen Persönlichkeit des serbischen Sozialismus um die Jahrhundertwende, stehend, engagierte er sich auch während seines Studiums in der sozialistischen Bewegung.

Anfang des 20. Jahrhunderts nahm die sozialistische Bewegung in Serbien trotz der polizeilichen Verfolgungen wieder einen Aufschwung. Ab Januar 1902 begann die "Radnicke Novine" erneut zu erscheinen, und Ende Mai 1902 wurde auf Initiative von Dragovic und Tucovic ein illegales Komitee aus Vertretern verschiedener Arbeiterorganisationen und Gewerkschaften, der Sozialistischen Studentengruppe und der "Radnicke Novine" gebildet. Es sollte die Tätigkeit der Arbeiterorgani-sationen und der Presse koordinieren und zentralisieren. Sekretär wurde Radovan Dragovic. Nach dem 23. März 1903 (dem 6. April nach dem neuen Kalender), als eine Massendemonstration von Arbeitern, Schülern und Studenten in Beograd von der Polizei aufgelöst und auseinandergetrieben wurde, musste Tucovic als einer der Organisatoren dieser Manifestation Serbien verlassen. Er ging nach Wien, kam Juni 1903 wieder zurück und ging während der Sommerferien zu den Eltern nach Uzice, um unter den einheimischen Arbeitern zu agitieren.

Im Richtungsstreit, der bald darauf im Komitee über die Perspektive der serbischen Arbeiterbewegung entbrannte, nahm ein Flügel unter Dimitrije Tucovic, Radovan Dragovic und Trisa Kaclerovic die Position ein, dass eine eigenständige Arbeiter-bewegung notwendig sei, während ihre Opponenten eine Gemeinschaft mit dem bürgerlichen Liberalismus anstrebten und eine Mittelgruppe zu vermitteln suchte.

In den nächsten Jahren ergaben sich zunehmend günstigere Bedingungen für eine Vertiefung und Ausbreitung der Arbeiterbewegung: Im Mai 1903 hatten Vertreter des liberalen Bürgertums und des Offizierskorps einen Umsturz durchgeführt, der das Polizeiregime des austrophilen Königs Alexander I. (Obrenovic) stürzte und den stärker an Russland, Frankreich und England orientierten König Peter I. (Kara-djordjevic) an die Macht brachte. Das Ergebnis des Umsturzes war ein scharfer serbisch-österreichischer Konflikt, und die serbische Bourgeoisie sah nun ihre Stunde zu einer großserbischen Außenpolitik gekommen. "Serbien – das Piemont der Südslawen" wurde das neue Schlagwort, das an die italienische Einigungs-bewegung und dessen Zentrum, eben das Piemont, erinnern sollte. Im Zuge dieser Entwicklung gewann in der Bourgeoisie jene Strömung die Oberhand, die sich für eine verfassungsmäßige Entwicklung und eine parlamentarische Monarchie ein-setzte und auch der Arbeiterbewegung mehr Bewegungsspielraum ließ.

Im August 1903 wurde auf Initiative des Komitees ein Kongress der Vertreter der Arbeitervereine, der Gewerkschaften und anderer Arbeiterorganisationen in Beo-grad einberufen. Dieser Kongress, der im Charakter zu einem sozialdemokratischen Parteitag mutierte, verkündete die Gründung einer Sozialdemokratischen Partei; programmatisch wurde das Erfurter Programm der SPD der neuen Partei zugrunde-gelegt. Ebenso wurde die Basis für eine einheitliche Gewerkschaftsbewegung geschaffen.

Wie im illegalen Komitee des Jahres 1902 bildeten sich auch in der neu-entstandenen Partei wieder dieselben drei Strömungen heraus: Der nach dem Parteitag nach Beograd zurückgekehrte Tucovic stand mit Dragovic am linken Flügel der Partei. In dieser ersten Phase dominierte aber mit Joganovic, dem Sekretär des Hauptvorstandes der Partei, ein Vertreter des opportunistischen Flügels. Dimitrije Tucovic widmete sich in der nächsten Zeit vor allem den Gewerkschaften und der sozialistischen Bildungsarbeit. 1904 wurde die erste sozialdemokratische (Partei-) Schule gegründet, deren Leiter Tucovic wurde.

In der Gewerkschaftsbewegung war eine syndikalistische Strömung stärker ge-worden, die die Gewerkschaftsbewegung von der Bühne der Politik fernzuhalten trachtete. Am II. Kongress der gewerkschaftlichen Landeszentrale (April 1904) hielt Tucovic das zentrale Referat über "Charakter und Aufgaben der Gewerk-schaftsbewegung", in dem er die von den Syndikalisten vertretene Theorie einer politischen Neutralität der Gewerkschaftsbewegung zurückwies. Die vom Kongress angenommene Resolution schrieb die ideologische Niederlage des serbischen Syndikalismus gegenüber der marxistischen Strömung fest. Eine ähnliche Ent-wicklung ergab sich in der Sozialdemokratischen Partei, die ihren Parteitag zeitgleich mit dem Gewerkschaftskongress abgehalten hatte und in der ebenfalls die marxistische Strömung, diesmal über die opportunistische, den Sieg davontrug. Der Einfluss von Syndikalismus und Opportunismus in der serbischen Arbeiter-bewegung war damit aber noch nicht gebrochen – vor allem Tucovic sollte in den nächsten Jahren den ideologischen Kampf seitens der sozialdemokratischen Partei-führung tragen.

Denn Tucovic spielte inzwischen in der serbischen Arbeiterbewegung eine zentrale Rolle. Deutlich wurde dies u.a. auch anlässlich der Ereignisse der Revolution von 1905 in Russland, die auch in Serbien genau registriert wurden. Nach dem "Blutigen Sonntag" fand am 16. (29.) Jänner 1905 eine von der Serbischen Sozial-demokratischen Partei und der Gewerkschaftszentrale einberufene Großkund-gebung statt. Hauptredner Dimitrije Tucovic sprach begeistert vom Kampf des Proletariats in Russland. In der von der Kundgebung angenommenen Resolution hieß es: "Der Sieg des russischen Proletariats wird zur gleichen Zeit ein russischer, ein serbischer und ein internationaler Sieg sein. Es lebe die Revolution!" (Radnicke Novine, 19.1.1905) Bei einer neuerlichen Massenkundgebung am 13. (26.) März 1905 war wieder Tucovic der Hauptredner. Er hielt eine mitreißende Ansprache, die unter dem Titel "Die russische Revolution und die Sozialdemokratie" in der Parteipresse veröffentlicht wurde.

Im Herbst 1907 ging Tucovic nach Berlin und positionierte sich dort in den theoretischen Auseinandersetzungen der Sozialdemokratie mit Karl Kautsky auf seiten des orthodoxen Marxismus gegen Eduard Bernstein, kehrt aber wegen der ideologischen Differenzen in der serbischen Sozialdemokratie nach Beograd zurück. April 1908 wurde Tucovic zum Sekretär des Parteivorstandes gewählt. Er war Hauptredakteur der Tageszeitung "Radnicke Novine" und der theoretischen Halbmonatsschrift "Borba" (Der Kampf), ferner war er tätig als Leiter der Parteischule und als Verleger und Redakteur der sozialistischen Bibliothek, die die Hauptwerke der klassischen sozialistischen Literatur und wichtige Arbeiten heimischer Sozialisten publizierte.

Zur selben Zeit, als Tucovic Parteivorstandssekretär wurde, spitzte sich die Situation am Balkan mit der Annexion von Bosnien-Herzegowina durch Österreich-Ungarn gefährlich zu. Im August 1908 sandte die Führung der Serbischen Sozialdemokratischen Partei an das Internationale Sozialistische Büro der II. Internationale ein von Dimitrije Tucovic verfasstes und unterzeichnetes "Memo-randum über die politische Lage der Arbeiterbewegung in Bosnien und Herzegowina", das auch international in der sozialdemokratischen Bewegung viel Beachtung fand. Die imperialistische Politik Österreich-Ungarns, aber auch die nationalistische Politik des serbischen Königshauses und der serbischen Bourge-oisie wurden an den Pranger gestellt und die Arbeiterparteien aller Länder, ins-besondere natürlich die der direkt involvierten Staaten, aufgefordert, sich zur Verteidigung der Arbeitenden in Bosnien-Herzegowina zu erheben.

Innerparteilich wichtig blieb – neben der nationalen Frage am Balkan – der Kampf zwischen der marxistischen, der opportunistischen und der syndikalistischen Strömung. Der Kampf wurde von ersterer vor allem von Dimitrije Tucovic geführt, der für die entscheidenden Parteidokumente und auf den Parteitagen für die wichtigen Interventionen verantwortlich zeichnete. Tucovic vertrat die serbische Sozialdemokratie auch auf internationalen Kongressen – so am Kongress der II. Internationale in Kopenhagen (28. August bis 3. September 1910), wo er in der Kommission über die Beziehungen zwischen den Genossenschaften und den Parteien vertreten war und in der Plenarsitzung in der Frage von Militarismus und Krieg eine linke Position einnahm.

Von 1911 bis 1912 war Tucovic Sekretär der serbischen Arbeiterkammer, wo er sich für eine moderne Arbeiterschutzgesetzgebung engagierte. Besondere Ver-dienste hatte sich Tucovic auch als Organisator der ersten sozialistischen Konferenz der Balkanländer (Jänner 1910) erworben, auf der die Gründung einer "Soziali-stischen Balkanföderation", eines Zusammenschlusses der sozialdemokratischen Parteien des Balkanraumes, beschlossen wurde. Nicht zuletzt aufgrund von Dimitrije Tucovic nahm die serbische Sozialdemokratie eine konsequent inter-nationalistische Position ein und verband den Kampf gegen den Krieg mit dem Kampf des Proletariats gegen die Klassenherrschaft und die imperialistische Politik der herrschenden Klassen. Im Laufe der Vorbereitungen und am Anfang des 1. Balkankriegs erklärte sich die Serbische Sozialdemokratische Partei gegen den Krieg und stimmte gegen die Kriegskredite ab. Dem wurde das "dauernde Bündnis" der Balkanvölker entgegengehalten. Und auf den 2. Balkankrieg nimmt Tucovics "Serbien und Albanien", das wir hier in deutscher Übersetzung vorlegen, direkt Bezug. Auf einer im September 1913 in Beograd organisierten Arbeiterkundgebung wurde gegen die "eroberischen Bestrebungen der Bourgeoisie protestiert, die in ihrer Besessenheit das Land in ein blutiges Abenteuer führt, das endloses Unglück bringen kann."

Persönlich war Tucovic gezwungen, im Frühjahr 1913 mit der serbischen Armee am 2. Balkankrieg teilzunehmen; seine Teilnahme am Feldzug in Albanien nutzte er zu Recherchen zu seinem Buch Serbien und Albanien, das er nach seiner Demobilisierung im August in der zweiten Jahreshälfte 1913 fertigstellte.

Während des ersten Halbjahres 1914 wurde der Kampf gegen den Militarismus fortgeführt. Nach dem Attentat auf den österreichisch-ungarischen Thronfolger Franz Ferdinand fand am 12. (25.) Juli 1914 knapp vor der Kriegserklärung Österreich-Ungarns an Serbien eine Sitzung des Parteivorstandes statt. Dimitrije Tucovic und Dusan Popovic sprachen sich gegen den drohenden Krieg aus und übten scharfe Kritik an den Herrschenden in Serbien und an deren chauvinistischer und nationalistischer Politik. Das Zentralkomitee nahm einmütig eine inter-nationalistische Haltung ein, und die Partei gab – im Unterschied zur übergroßen Mehrheit der sozialdemokratischen Parteien der II. Internationale – diese auch nach Kriegsausbruch nicht auf: Am 31. Juli 1914 sprachen sich die zwei sozial-demokratischen Abgeordneten in der Skupschtina gegen den Krieg aus, verurteilten die Politik der Regierung und erklärten ihre Solidarität mit dem Proletariat und den sozialdemokratischen Parteien Österreich-Ungarns.

Die grausame Ironie der Geschichte ist dafür verantwortlich, dass gerade Dimitrije Tucovic, der als einer der entscheidenden Parteiführer der serbischen Sozial-demokratie ganz wesentlich (mit-) verantwortlich für deren unbeugsame internationalistische Position zeichnete, im Ersten Weltkrieg sterben musste. Er wurde zur Armee eingezogen und fiel am 7. (20.) November 1914 in Vrapcije Brdo bei Lazarevac.

 

Miodrag Jovanovic / Manfred Scharinger

 

Revolutionäre Tradition

Die serbische Arbeiterbewegung von 1870 bis zum 1. Weltkrieg

 

Seit Jahren stürzen die Nationalisten – unter tatkräftiger Mithilfe des Westens – den Balkan in Elend und Blut. Der serbische Nationalismus spielt dabei eine be-deutende Rolle. Die bürgerlichen Medien in Österreich und Deutschland über-schlagen sich in antiserbischem Rassismus. Sogenannte Experten werden bemüht, um ihre pseudo-wissenschaftlichen Ausdünstungen zu verbreiten. Die Serben seien eben schon immer unkontrollierbar, bärtig und nationalistisch gewesen. In Wirk-lichkeit hat die serbische Arbeiterbewegung eine große revolutionäre und inter-nationalistische Tradition, an der sich die österreichische Sozialdemokratie ein Beispiel hätte nehmen können.

Der serbische Staat entstand im Kampf gegen die türkische Herrschaft und wurde 1878 am Berliner Kongress international anerkannt. Als die ersten sozialistischen Ideen in Serbien auftauchten, war es noch immer ein wirtschaftlich rückständiges Land, mit einer Monarchie, die sich auf Armee und Bürokratie stützte und eine modernisierte Form der absolutistischen Herrschaftsform darstellte. Daher stellten sich dieser sowohl die intellektuelle Jugend und das liberale Bürgertum als auch die unterdrückten Massen entgegen.

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts setzte in Serbien dann eine rasante Indu-strialisierung ein, wodurch sich der Anteil des Industrieproletariats an der gesamten arbeitenden Bevölkerung erhöhte, wenn er auch weiterhin verhältnismäßig gering blieb. Dennoch handelte es sich um ein mit sozialistischen Ideen aufgewachsenes Proletariat, das schon sehr bald klassenkämpferische Aktivitäten entwickelte. Bereits 1876 kam es in Kragujevac zu Arbeiterdemonstrationen, die damit endeten, daß am Rathaus die rote Fahne mit der Aufschrift Selbstverwaltung gehisst wurde. Anlass war die Ungültigkeitserklärung von Gemeinderatswahlen in Orten, wo die Sozialdemokraten gewonnen hatten.

Der größte sozialistische Einfluß vom Ausland her kam zur Zeit von Svetozar Markovic (dem Vater des serbischen Sozialismus) aus Russland, der Schweiz und Frankreich. Gewissen Einfluss übten auch eingewanderte qualifizierte Arbeiter aus, vor allem Deutsche und Tschechen, die sich in Serbien der Arbeiterbewegung an-schlossen. In Serbien erschien 1871 das Kommunistische Manifest, und Markovic kannte bereits den ersten Band des Kapitals, als dieses Werk in Europa noch kaum Verbreitung gefunden hatte und noch weniger verstanden wurde.

Nach dem Tod von Markovic gingen seine Anhänger verschiedene Wege. Die einen um Mita Cenic orientierten sich weiterhin an der sozialistischen Arbeiter-bewegung und strebten die Gründung von Gewerkschaften und einer Arbeiterpartei an. Die anderen, wie etwa Nikola Pasic, entfernten sich immer mehr von ihren sozialistischen Ursprüngen und gründeten 1881 die Radikale Partei Serbiens, die sich zunächst an den Interessen der kleinbäuerlichen Massen orientierte und schließlich zur Partei des liberalen Bürgertums wurde.

Die sozialistischen Kräfte unter der Führung von Radovan Dragovic gründeten nach zähem Ringen mit den kleinbürgerlichen Strömungen und Auffassungen in der Arbeiterbewegung und gegen die allgemein widrigen politischen Bedingungen im Jahre 1903 die Sozialdemokratische Partei Serbiens. Ihr Programm war eine Kopie des (1891 von der deutschen Sozialdemokratie angenommenen) Erfurter Pro-gramms, wobei Dragovic das revolutionär-kämpferische Moment des Programms ausdrücklich hervorhob:

"Wir sind nicht nur eine Partei der Reform, sondern auch eine der Revolution. Die Sozialdemokratie darf ihren revolutionären Charakter nicht verleugnen, denn die heutige Gesellschaft ist morsch, und wir verlangen daher, dass neben Reformen, dort, wo sie nützlich sind, die Grundlagen der Gesellschaftsordnung geändert werden und anstelle des privaten das Gemeineigentum treten muss."

Ebenfalls 1903, kurz vor der Partei, wurde auch ein zentraler Gewerkschafts-verband gegründet, der in enger personeller, politischer und organisatorischer Verbindung mit der Sozialdemokratischen Partei stand. Die Radnicke Novine (Arbeiterzeitung) wurde zum gemeinsamen Organ von Partei und Gewerkschaft. Nach dem Tod von Dragovic kam es zwischen 1905 und 1908 zu Auseinander-setzungen zwischen einem reformistischen und einem marxistischen Flügel in der Partei, wobei sich letzterer zur Unterstützung seiner Linie erstmals auf ein Werk von Lenin (Was tun?) stützte. Die marxistische Richtung setzte sich mit der Wahl von Dimitrije Tucovic zum neuen Parteivorsitzenden schließlich eindeutig durch.

Besonders bemerkenswert ist die Haltung der serbischen Sozialisten zur nationalen Frage und zur Frage des Krieges. Noch unter Dragovic kam es im Jahre 1902 zu engen Kontakten mit den kroatischen Sozialdemokraten, zu gegenseitigen Besuchen und zur Mitarbeit in den jeweils anderen Zentralorganen. Als es in Zagreb zu blutigen antiserbischen Demonstrationen und als Reaktion darauf seitens der serbischen Kapitalistenklasse zu einer wüsten anti-kroatischen Hetzkampagne kam, schrieb Dragovic folgenden Text mit dem Titel Unsere Rache mit leider noch immer brennender Aktualität:

"Den Streit zwischen Serben und Kroaten haben unsere und ihre Popen geschaffen, um leichter ihre Herden scheren zu können, und Berufspolitiker, die die Dummheit der verhetzten Menschen ausnutzen. Der serbische und der kroatische Bauer haben keinen Grund, sich zu streiten. Sie sind gleichermaßen unterdrückt, rechtlos und hungrig, ihre Armut ist die gleiche. Daher haben sie auch die gleichen Feinde. Aber ihre wahren Feinde, das sind diejenigen, die von einem Großserbien, einem Großkroatien, von Zar Dusan oder Zvonimir reden, doch ihr eigenes Volks würgen und es in Armut und Unwissenheit halten. Wir Sozialisten teilen die Leute danach ein, ob sie von ihrem eigenen Können leben oder von fremdem, ob sie nützliche Arbeiter oder aber vollgefressene und gemästete Schmarotzer sind. Der kroatische Arbeiter und Bauer ist unser Bruder und Freund, der kroatische und serbische Spießbürger und Pope unser Feind. Wir Sozialisten sprechen mit einer anderen Zunge als unsere Bourgeoisie. Das kroatische Volk, der unterdrückte Bauer, kann nicht verantwortlich sein für die chauvinistische Verrücktheit, den patriotischen Kretinismus und die religiöse Verblendung seiner Advokaten und Popen. Unsere Rache ist die immer stärkere Durchdringung und Verbreitung sozialistischer Ideen in immer breiteren Schichten beider Völker. Nur der Sozialismus ist in der Lage, Frieden und Vernunft unter die Völker beziehungsweise Freiheit und Gerechtigkeit den Menschen zu bringen."

Aus diesem Text geht sehr gut die konsequent antinationalistische und revolutionär-sozialistische Grundhaltung der serbischen Sozialdemokratie hervor. Wichtig ist auch ihre Haltung zur gesamten Balkanfrage, wo sie an vorderster Front, in enger Zusammenarbeit mit den "engherzigen" bulgarischen Sozialdemokraten (also ihrem revolutionären Teil), die Losung einer Balkanföderation auf freiwilliger Grundlage aufstellten.

Auf der ersten sozialdemokratischen Balkankonferenz, die 1910 auf Initiative von Tucovic in Belgrad stattfand, wurde ein gemeinsamer Standpunkt zur nationalen Frage am Balkan, zur imperialistischen Politik der Großmächte in dieser Region und zur militaristisch-nationalistischen Eroberungspolitik von bestimmten Balkan-staaten eingenommen. Letzterer wurde die sozialistische Brüderlichkeit und Gleich-heit der Balkanvölker entgegengestellt, die durch den proletarischen Klassenkampf nach Vereinigung streben. Nur der Klassenkampf sei in der Lage, den Anta-gonismus zwischen den Völkern zu beseitigen und das Streben nach voller demokratischer Selbstverwaltung und Unabhängigkeit zu unterstützen.

Die serbischen Sozialdemokraten bewiesen einige Male, dass sie durch und durch Internationalisten waren – als sie 1908 anlässlich der "Bosnienkrise", 1912 und 1913 bei Ausbruch der Balkankriege und 1914 vor Ausbruch des 1. Weltkrieges im Parlament gegen die Kriegskredite stimmten und ihrer eigenen Kapitalistenklasse jegliches Vertrauen verweigerten.

Die Annexion Bosnien-Herzegowinas durch den österreichischen Imperialismus im Jahr 1908 bedeutete eine klare Verletzung des Selbstbestimmungsrechtes der dort lebenden Bevölkerung. Die serbischen Sozialdemokraten, Angehörige eines halb-kolonialen Landes, lehnten dennoch eine militärische Konfrontation mit dem imperia-listischen Österreich-Ungarn ab, weil aufgrund der damaligen Kräfte-konstellation in Europa Serbien nur ein Bauer im imperialistischen Schachspiel war, weil die imperialistische Auseinandersetzung einen antiimperialistischen Kampf Serbiens dominiert hätte. Sie stellten daher ihre internationalistischen Ver-pflichtungen über ihre nationalen, was im Lichte des Verrats der bedeutendsten Parteien der 2. Internationale an der internationalen Arbeiterbewegung vor dem Ausbruch des 1. Weltkrieges einige Beachtung verdient.

Diese Haltung bedeutete aber keineswegs eine Preisgabe des militärischen Befreiungskampfes der Bosnier, den sie propagandistisch (und mit Waffen-lieferungen) unterstützten. Von den österreichischen Sozialdemokraten wurde die Annexion Bosnien-Herzegowinas mit geringem Protest und keinerlei Aktionen hingenommen, weswegen sie von den serbischen Sozialdemokraten wiederholt scharf kritisiert wurden – so auch am Sozialistenkongreß in Kopenhagen 1910, wo sie explizit das "Selbstbestimmungsrecht der Völker bis hin zur Abspaltung" einforderten. Sie forderten die österreichischen Sozialdemokraten auf, den Haupt-feind im eigenen Land zu bekämpfen, anstatt sie über die "Rechte" der Serben in Österreich aufzuklären und vor der militaristischen Eroberungspolitik der serbischen Bourgeoisie zu warnen, was sie getrost der serbischen Sozialdemokratie überlassen könnten.

Die Balkankriege lehnten die serbischen Sozialdemokraten als militaristische Eroberungskriege ab, weil sie nicht nur der Befreiung der eigenen Nation von der osmanischen Herrschaft dienten, sondern auch der Unterwerfung anderer Völker (Makedonier, Albaner). Als sie vor dem 1. Weltkrieg im serbischen Parlament die Kriegskredite ablehnten, schrieb Leo Trotzki, der selbst Augenzeuge war:

"In der Skupstina, in einer Atmosphäre unbeschreiblicher nationaler Begei-sterung, stimmte man über die Kriegskredite ab. Die Abstimmung geschah durch Namensaufruf. Auf zweihundert ‘Ja’ klang durch Gabesruhe ein einziges ‘Nein’ des Sozialisten Ljapcevic. Alle empfanden die moralische Kraft dieses Protestes, der als eine unvergessliche Erinnerung in unserem Gedächtnis verblieb."

Und weiter:

"Wenn der Begriff ‘Verteidigungskrieg’ überhaupt einen Sinn hat, so augen-scheinlich in der Anwendung auf Serbien in diesem Falle. Dessen ungeachtet haben unsere Freunde Ljapcevic und Kaclerovic in unerschütterlichem Bewusstsein ihrer sozialistischen Pflicht ihrer Regierung das Vertrauen rundweg verweigert."

Die serbischen Sozialdemokraten waren damit – neben einem Teil der russischen Sozialdemokraten (den Bolschewiki) und der bulgarischen – die einzigen konse-quenten Internationalisten, die einzige Gesamtpartei der internationalen Sozial-demokratie, die nicht vor der eigenen Kapitalistenklasse kapitulierte.

Die serbische Arbeiterklasse muss heute mehr denn je zu einem treibenden Faktor im Kampf gegen die nationalistische Barbarei werden. Wenn sie sich ihrer revolu-tionären Traditionen besinnt und wieder als eigenständige politische Kraft zu agieren beginnt, kann sie zum Motor revolutionärer Umwälzungen am ganzen Balkan werden.

Miodrag Jovanovic

Literatur:

  • Sergije Dimitrijevic: Socijalisticki Radnicki Pokret u Srbiji 1870-1918, Beograd 1982
  • Leo Trotzki: Die Balkankriege 1912-13, Essen 1996

    (Der obige Text wurde von Miodrag Jovanovic bereits 1992 verfasst und hier in leicht veränderter Fassung neu abgedruckt.)